Es ist der dreiundzwanzigste August und ich bin vor etwa dreimalzwanzig Stunden dreiundzwanzig Jahre alt geworden. Draußen waren dreiundzwanzig Grad, zumindest am Meer, das nicht mehr ganz dreiundzwanzig Grad hatte. Eher neunzehn. Ja, wir waren am Strand, dreiundzwanzig weniger neunzehn Leute, also eine eher kleine Runde, bestehend aus Marie, einem Freund, einer Freundin, die zusammen sind und sich in meinem Blog keine Kosenamen wünschen, und mir.
Geflohen sind wir. Für ein ruhiges und entspanntes Wochenende zum Erholen. Maries Eltern haben uns ihr Wochenendhaus überlassen. Einzige Bedingung war, dass wir am Ende einmal grob saubermachen und den Müll rausbringen. Das sollte möglich sein.
Es war sehr entspannt. Wir sind am Freitag vor einem gemeinsamen Wochenend-Einkauf nochmal schnell in die Ostsee gehüpft, haben abends meinen Geburtstag gefeiert, weniger mit großem Besäufnis, mehr mit leckerem Abendessen und einer anschließenden angeregten Quatschrunde bis spät in die Nacht. Ich habe alleine auf einem Klappsofa geschlafen in himmlischer Ruhe, wurde am Samstagmorgen durch den Duft von Aufbackbrötchen geweckt, bevor wir im Garten gefrühstückt haben.
Am Samstag waren wir den ganzen Tag am Strand, haben mehrmals im Meer gebadet, uns gesonnt – und weiter nichts. Lustig war eine Begegnung mit einem jungen Mädchen, geschätzt zwölf Jahre alt, das mit ihrer Mutter am Strand, aber alleine im Wasser war. Wir hatten sie zuerst nicht wahrgenommen und schwammen im eher flachen Wasser an ihr vorbei. Wir hatten zwei Luftmatratzen dabei und unsere beiden zu Fuß gehenden Freunde machten sich einen Spaß draus, Marie und mich so in die (eigentlich eher flachen) Wellen zu schieben, dass sie entweder über das Kopfteil spritzten oder die ganze Matratze umkippte. Ja, man kann nicht immer nur erwachsenes Verhalten zeigen…
Dieses Mädchen suchte ganz offensichtlich unsere Nähe, tauchte immer wieder zwischen uns auf und suchte schüchtern Blickkontakt. Irgendwann, als ich zum gefühlt zwanzigsten Mal von der Matratze gefallen war, schob
ich ihr das Ding hin und fragte: „Willst du auch mal?“ – Sie nickte und kletterte drauf. Eher vorsichtig. Meine Freundin schob sie ebenfalls in eine Welle, so dass die Matratze kenterte. Wir spielten einen Moment in
der Fünfergruppe weiter, dann brüllte plötzlich die Mutter vom Rand. Das Mädchen fragte: „Seid ihr später noch hier?“ – „Wir sind den ganzen Tag hier.“ – „Ich muss raus.“
Ich überlegte, warum die Mutter sie so streng aus dem Wasser holte. Dachte einen Moment nach, ob es richtig war, mit einem fremden Mädchen zu spielen. Wobei sie ja auf uns zugekommen ist und nicht anders herum. Aber egal, wir hätten auch „Nein“ sagen können. Oder sogar „Nein“ sagen müssen? Oder wenigstens vorher die Mutter fragen, ob das okay ist? Ich schob diese Gedanken zur Seite. Schlimm finde ich sie. Weil ich nie einem Kind etwas antun würde. Aber ich bin ja nicht alleine auf der Welt und deshalb … andererseits: Wo sind wir eigentlich, dass man nicht mal mehr spontan mit jemandem spielen darf? Okay, ich bin dreiundzwanzig … ich schob die Gedanken erneut zur Seite.
Später, als wir wieder aus dem Wasser kamen und uns abgetrocknet hatten, kam die Mutter zu uns. Und sagte: „Es tut mir leid, dass ich euer schönes Spiel unterbrechen musste. Aber meine Tochter ist zuckerkrank und musste spritzen und essen.“ – Ich fühlte mich verfolgt. Kam jetzt gleich die Frage, ob ich gerade im Krankenhaus … meine Famulatur ableiste? Nein, sie kam nicht, aber ich war dennoch einigermaßen perplex. Hat sich mein Idiotenmagnet umschulen lassen und zieht künftig junge Diabetiker an?
Das zwölfjährige Mädchen kam später noch einmal zu uns, wir bauten eine große Sandburg zusammen. Zu fünft. Ich fühlte mich ein wenig an die Begegnung mit Mia erinnert, die vor rund einem Monat einfach auf uns zusteuerte und mit der wir auch eine Sandburg bauten. Diese sah sehr gut aus. Als sie gerade fertig war, zogen mal wieder dunkle Wolken auf. Wir entschieden uns, zusammenzupacken und abzufahren. Erst jetzt bemerkte das Mädchen, dass Marie und ich nicht laufen können. „Ach, gehören euch etwa die Rollstühle da oben an den Dünen?“ – Ich fühlte mich erneut an Mia erinnert und glaubte inzwischen schon fast an ein Déjà-vu. Wenn sie nun noch fragt, ob sie auch mal damit fahren darf…
Tatsächlich. Das Mädchen wollte dann noch unbedingt ausprobieren, wie es sich anfühlt, in so einem Ding zu sitzen. Und meinte, dass es ja gar nicht so schlimm sei, wie sie es sich vorgestellt hätte. Allerdings wird sie nicht verstanden haben, welche weiteren Einschränkungen damit verbunden sind. Muss sie auch nicht.
Heute waren wir, bevor wir aufgeräumt, geputzt, den Müll rausgebracht und alles gut abgeschlossen haben, mit Fahrrädern und Handbikes an einem nahen Badesee. Leider war das Wetter nicht mehr so gut, so dass wir nur einmal kurz im Wasser waren und die übrige Zeit auf einer Decke liegend mit der Sonne flirteten, die sich immer wieder hinter Wolken versteckte.
Mit uns war, neben einigen anderen Sonnenhungrigen, eine Gruppe aus einer Behinderteneinrichtung vor Ort. Der Altersdurchschnitt der Bewohner lag bei Mitte 40, der Altersdurchschnitt der Mitarbeiter bei gefühlt 20. Rollstühle kannte Klaus, so nenne ich ihn mal, wohl aus seinem täglichen Leben, wenngleich er selbst Fußgänger war. Er kam zu uns, stellte sich demonstrativ direkt vor unserer Decke in die Sonne, biss sich seitlich auf seinen Zeigefinger und wippte mit dem Oberkörper hin und her. Marie, die gerade auf dem Bauch auf der Decke lag, schaute über ihre Schulter und fragte: „Na, wer bist du denn?“ – Er nahm seinen Finger aus dem Mund und sagte, weiterhin wippend: „Ich bin Klaus.“ – „Oh, hallo Klaus, ich bin Marie.“ – „Marie! Das ist Marie! Ich bin Klaus. Wasser ist kalt.“ – „Joa, das Wasser ist etwas kalt. Aber die Sonne scheint.“ – „Etwas kalt, ja, etwas kalt. Gehst du auch schwimmen?“ – „Ich war schon im Wasser.“ – „Ich geh heute auch schwimmen, Wasser ist nicht tief, ist nicht tief. Bist du Marie?“ – „Ich bin Marie. Und das ist Jule.“ – Er klatschte in die Hände. Ich winkte. Er hatte eigentlich gerade aufgehört mit dem Oberkörper zu wippen, jetzt biss er wieder auf seinen Finger und wippte weiter. Meine blendende Schönheit, die ihn verunsicherte? – „Ich bin Klaus, das ist Jule und das ist Marie“, sagte er und ging zu seiner Gruppe zurück. Aus der Ferne hörten wir: „Ich bin Klaus, das ist Jule und das ist Marie. Die sitzen im Rollstuhl.“
„Nee, die liegen auf der Decke“, murmelte Marie leise. Ich grinste. Kurz darauf kam Klaus wieder angelaufen. „Jetzt gehts los ins Wasser! Wasser ist kalt.“ – „Ach, so schlimm wird das nicht. Die Sonne scheint ja.“ – Die größten Probleme hatten die Betreuer damit, Klaus ins Wasser zu bekommen. Nicht, weil er nicht wollte, sondern weil er motorisch einfach enorm unkoordiniert agierte, sich auf den Po setzte und sich krampfhaft an einer grünen Schwimmnudel festhielt, obwohl das Wasser gerade mal zwanzig Zentimeter tief war. Eine Betreuerin, die mit einer jungen, vor Freude kreischenden Frau bereits viel weiter im tieferen Wasser war, brüllte laut: „Zieh ihn einfach an seiner Nudel ins Wasser.“
Unsere Freundin prustete los und Marie setzte gleich noch einen drauf: „Wenn sie die mal findet, wo er doch eben schon solche Angst vor kaltem Wasser hatte!“ – Die Betreuerin legte noch einmal nach: „Zieh ihn an seiner Nudel ins Wasser!“, brüllte sie. Am Ende klappte es am besten ohne die Nudel. Klaus plantschte wie ein kleines Kind, und als er irgendwann wieder nach draußen kam, meinte er im Vorbeigehen, ohne uns anzugucken: „Ich bin Klaus, das ist Jule und das ist Marie.“
Klaus hatte es erfasst. Und es war ein schönes Wochenende.