Ich habe wirklich sehr lange hin und her überlegt. Eigentlich kann man im Praktischen Jahr, in dem ich gerade stecke, nicht einfach fehlen.
Man darf insgesamt 30 Tage (egal, aus welchen Gründen) abwesend sein. Blöd wäre natürlich, wenn ich bis zum April (dann ist das dritte Drittel
vorbei) noch krank werde und deshalb längere Zeit flach liege. Allerdings muss ich bis Weihnachten insgesamt 10 freie Tage genommen haben, sonst verfallen sie.
In der letzten Woche hätte ich an drei Tagen arbeiten sollen – und habe mir diese drei Tage frei geben lassen. Um etwas für meinen Körper zu tun, was mir schon lange fehlte. Ich bin am Freitagabend in ein Trainingslager gefahren. Für eine Woche. Ein offener Workshop im Schwimmen, in Deutschland, mit völlig fremden Menschen. Eigentlich nicht
für Menschen mit Behinderung konzipiert, aber eine Bekannte aus der Uni, mit der ich hin und wieder zusammen schwimme, hatte sich dort angemeldet und meinte, der Kurs würde nicht stattfinden, weil eine Anmeldung fehle. Die Mindest-Teilnehmerzahl von 25 sei um eine Person unterschritten.
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren alle aus einem Umkreis von 400 Kilometern angereist und im Alter zwischen 14 und 50 Jahren. Ich war
allerdings die einzige Teilnehmerin mit einer körperlichen Beeinträchtigung. Und meine Bekannte aus der Uni hat im letzten Moment wegen einer Erkältung abgesagt, so dass ich als einzige Teilnehmerin niemanden vorher kannte.
Die Unterbringung war in einer Art Jugendherberge – in Sechserzimmern. Noch bevor die Zimmerverteilung geklärt werden konnte, fragte mich eine ältere Teilnehmerin, Renate, ob ich denn als Rollstuhlfahrerin überhaupt schwimmen könnte. Als ich das bejahte, legte
sie den Kopf schief und meinte, ich würde mich doch selbst in Gefahr bringen oder mindestens den Betrieb aufhalten. „Behinderte sind doch irgendwie Scheiße. Ich hoffe, du schwimmst nicht in meiner Bahn.“
Danke fürs Gespräch. Klasse, wenn Menschen quasi zur Begrüßung gleich
solche Dinge raushauen. Inzwischen bin ich ja abgebrühter als noch vor Jahren. Früher war ich nicht so schlagfertig, wollte keinen Streit. Heute habe ich geantwortet: „Ja, das hoffe ich auch.“ – Sie wollte wissen, was das heißen sollte. Ich ignorierte sie erstmal demonstrativ. Der Rest der Leute war ganz okay. Und die vorurteilsbehaftete Renate bekam ein Einzelzimmer. Auf eigene Kosten, nachdem sie „den Schweiß junger Mädchen“ nicht riechen wollte.
In meinem Zimmer schlief eine junge Frau namens Chantal. Ich weiß, dass sich nicht vom Namen auf den Charakter schließen lässt. Ich weiß als Blondine auch, dass die Wörter „blond“ und „blöd“ manchmal nur zufällig mit denselben Buchstaben beginnen. Fällt jemandem eine Erklärung ein, warum Chantal sich noch vor dem Betten beziehen darüber aufregt, dass es weder einen Fernseher auf dem Zimmer gibt noch der Handyempfang ausreicht, um „Jung, pleite, verzweifelt“ streamen zu können? „Das ist voll krass, ich seh mich da ganz oft selba wieda“, lässt Chantal ihre Umwelt wissen. Nachdem sie von mir wissen wollte, ob meine Behinderung nur die Beine betrifft, fragte sie in die Runde: „Welche Furzregel gibt es eigentlich im Zimmer? Ich bin für ‚Licht aus, alles raus‘, wenn ihr wisst, was ich meine. Das heißt, dass man im Bett einen rausballern darf, ohne dass man sich schlafend stellen muss.“
Eine andere Teilnehmerin, die mit dem Rücken zu Chantal stand und mich anschaute, verdrehte die Augen und fasste sich mit der Hand an die Stirn. Wir hatten wohl im selben Moment den selben Gedanken. Machte es Sinn, mit Chantal über im Schlaf abgehende Darmwinde zu diskutieren? Nein. Ich habe gelernt, es sollen vier bis zehn sein pro Nacht, mit viel
Luft nach oben bei Menschen, die ihren Nahrungsbrei schlecht verdauen. Es wäre also unsinnig zu behaupten, dass irgendeine der sechs Personen nachts im Schlaf nicht pupst. Aber wenn das schon verhandelt wird, bietet sich ja auch eine Chance, mein nächtliches Frischluftbedürfnis durchzusetzen: „Ich wäre dafür, dass hier gar nicht gefurzt wird. Aber ich würde mich kompromissweise auch auf deinen Wunsch einlassen, wenn wir dafür das Fenster nachts gekippt lassen können.“ – Eins zu Null für mich.
Im Wasser war ich natürlich die Attraktion. Dass der Rollstuhl nicht mit ins Wasser kommt, war entweder allen klar oder es hat sich niemand zu fragen getraut; aber dass jemand ohne Beineinsatz 50 Meter in 50 Sekunden krault, hat einige schon fasziniert. Renate konnte es nicht zugeben, sondern musste weitere Gehässigkeiten rauslassen. Auch die Frage, ob ich Sex haben kann, fand ich zumindest in der Schwimmhalle unangemessen. Geschockt hat sie mich aber nicht.
Licht ins Dunkel kam für mich, als sie morgens beim gemeinsamen Frühstück erstmal ihre ganzen Pillen auspackte. Ganz ehrlich: Wenn ich Psychopharmaka einnehmen würde, dann würde ich mir eine Medikamentenbox holen und die Tabletten irgendwo im Off aus dem Blister in die Box umfüllen. Einfach, um Nachfragen jener Renates und Chantals zu vermeiden, die schon Menschen mit körperlicher Behinderung als potenziell durchgeknallt ansehen. Renate nahm alleine zum Frühstück vor allen Leuten demonstrativ 30 mg Aripripazol, 300 mg Venlafaxin und 2,5 mg Lorazepam ein – vermutlich litt sie also unter einer bipolaren affektiven Störung und unter starken Ängsten. Das rechtfertigte zwar nicht, so gehässig und distanzlos zu mir zu sein, aber vermutlich ließ es sich damit erklären. Ich habe mir nicht anmerken lassen, dass ich wusste, was sie da nimmt. Und vor allem: In welchen Mengen. Ich würde bei einer solchen Einnahme allenfalls noch als Zombie durch die Gegend rollen. Renate aber fuhr noch Auto.
Und sang. Nachts auf dem Innenhof. Laut. „Wenn ich zum Markt geh, dann kauf ich dir ein Hähnchen, und das soll dich jeden Morgen wecken.“ –
Wirklich wahr. Es folgten Gespräche zwischen der Trainerin und Renate. Am vierten Tag saß sie heulend beim Frühstück, meinte, die Trainerin sei
Schuld, dass sie sich nun eine „Angstdosis“ reinziehen müsste. 10 mg Zopiclon, einen Flachmann auf Ex und ab ins Bett. Als sie wieder aufwachte, haben die Trainer sie nach Hause geschickt. Ich hatte ja schon Bedenken, ob sie überhaupt wieder aufwachen würde, aber ich glaube, ich bin da noch zu unerfahren.
Und Chantal? Pupste nachts zwar munter, konnte ihr Niveau aber noch steigern. „Weißt du, was ich hasse? Wenn die ganzen Pupsblasen sich im Badeanzug verfangen.“
Ansonsten war es eine schöne Woche. Die vielen anderen Menschen waren
interessant bis wundervoll. Oft auch interessiert. „Darf ich mal sehen,
wie du Auto fährst?“, war die häufigste Frage. So hatte ich immer zwei bis vier Leute, die mit mir mal kurz zum Einkaufen fuhren, denn nur von der Kantinenkost konnte niemand überleben. Es gab viel zu wenig zu trinken, und damit meine ich keine Alkoholika, die ich sowieso nicht trinke. Socke musste also regelmäßig Einkaufslisten anfertigen und für alle möglichen Leute Gummitiere, Schoki und Energydrinks holen. Ich will
ja nicht behaupten, dass ich nie Süßkram esse, aber was einige Leute sich so täglich ins System schütten – pfui. Aber mit eigenem Auto (als einzige neben der abgereisten Renate) war ich natürlich eine feste Größe
im Team.
Ich weiß jetzt jedenfalls, warum ich gerade noch ein wenig schneller geworden bin und freue mich, dass ich das gemacht habe. Auch, wenn das mit einer Woche Funkstille in meinem Blog einher ging. Und wenn ich es so schnell nicht noch einmal brauche.