Ich weiß inzwischen, was ich nicht machen darf: Nichtsahnend in den
Tag hinein rollen. Nein, nichtsahnend ist nie gut. Ich muss immer auf der Hut sein, immer vorbereitet sein. Das weiß ich inzwischen. „Willst du dich besaufen?“, fragt mich der Mensch, der hinter mir an der Supermarktkasse wartet und die drei Flaschen Mineralwasser kommentieren möchte, die ich auf das Laufband gelegt hab. Ohne mich umzudrehen, antworte ich: „Es wird ein Exzess.“
Der Mensch vor mir, der sich umgedreht hat, schmunzelt und dreht sich
wieder zurück. Der Mensch hinter mir hat einen Becher Buttermilch auf das Laufband gestellt und trippelt mit seinem Gipsfuß auf den Fliesen herum. „Danach kann ich immer besonders gut kacken!“, lässt er mich wissen, als er auf seine Buttermilch deutet. „Ich weiß nicht, ob ich das
unbedingt wissen möchte“, antworte ich, wieder ohne mich umzudrehen. Der Mensch wiederholt: „Nee, nach der Buttermilch meine ich. Da geht das
besonders gut.“ – „Ich möchte das nicht wissen!“, wiederhole ich ebenfalls.
Es sei doch ein menschliches Thema, brabbelt er weiter. Ich ignoriere
ihn komplett. Er schimpft ein wenig mit sich und mit mir, dann bin ich dran, bezahle meine drei Flaschen Wasser und rolle hinaus, ohne mich noch einmal zu dem Verstopften umzudrehen.
In der Klinik angekommen rolle ich in mein Zimmer. Man möchte, dass ich eine weiße Jeans und ein weißes Polo- oder Sweatshirt trage. Gestellt wird das nicht, dafür gibt es aber eine Bekleidungspauschale und eine Firma, die das einheitlich liefert. Waschen muss ich das selbst. Für Untersuchungen gibt es noch einen weißen Kittel, den das Haus stellt und der zentral gereinigt wird, der passt mir im Rollstuhl aber nicht. Bislang hatte ich immer Hosen und Hemden über die Klinik bekommen. Es gab immer einen Schrank oder ein Regal, wo man sich was in seiner Größe wegnehmen und abends oder bei Bedarf in den Wäschewagen werfen konnte. Das war natürlich deutlich hygienischer. Andererseits ist
Jeans wesentlich modischer als gemangelte dunkelblaue oder dunkelgrüne Baumwollhosen.
Achso, und wir sollen bitte keine dunklen Strings tragen, Tätowierungen verdecken und Piercings entfernen. Wie gut, dass ich in meiner Langweiligkeit weder Strings noch Tatoos noch Piercings trage. Ich war gerade umgezogen, als meine Chefin gegen die Tür wummerte und zu
mir hinein wollte. Sie war sichtlich sauer. Und jetzt trage ich dafür ja die volle Verantwortung. Sie drehte gleich auf und begann mit dem Satz: „Wir müssen über etwas sprechen, was mit Sicherheit einen Verweis nach sich zieht, sollte sich für Ihr Verhalten kein guter Grund finden. Was das in der Probezeit bedeutet, können Sie sich ja ausmalen. Ich komme gleich zur Sache: Gestern abend ist eine Mutter mit einem bewusstlosen Kind in unsere Klinik gekommen. Die Mutter spricht kaum Deutsch und hat uns hier für ein Akutkrankenhaus mit Notaufnahme gehalten. Sie war völlig aufgebracht und schon auf dem Parkplatz völlig verzweifelt. Sie standen an der Grundstücksgrenze mit einer Zigarette in
der Hand und haben sich mit einem Mann unterhalten, und Sie haben diese
Mutter gesehen, ihr sogar noch hinterher geguckt, ohne etwas zu unternehmen. Dafür habe ich einen Zeugen. Sie haben seelenruhig zugesehen, während vor Ihnen diese Mutter nach Hilfe bettelt. Was haben Sie dazu zu sagen?“
„Nichts.“ – „Das ist Ihr gutes Recht, aber …“ – Ich unterbrach sie: „Nichts, weil Sie mich verwechseln.“ – „Man hat Sie eindeutig gesehen. Es gibt einen Zeugen.“ – „Dann irrt sich dieser Zeuge. Ich bin seit 26 Jahren Nichtraucherin und ich habe niemals mit einer Zigarette in der Hand an irgendeiner Grundstücksgrenze gestanden. Niemals. Und ich kenne auch diese Geschichte mit dem bewusstlosen Kind nicht, sondern höre sie zum ersten Mal.“ – „Sie wurden eindeutig gesehen.“ – „Dann holen Sie doch bitte den Zeugen her oder wir gehen da jetzt gemeinsam hin. Ich bin
gespannt, wie er da wieder rauskommen will. Das ist nämlich eine Sauerei, so etwas einfach in die Welt zu setzen. Ich wäre die Erste, die
sich um so eine Sache kümmern würde, wenn da eine Mutter mit einem bewusstlosen Kind angelaufen kommt.“
„Ehrlich gesagt konnte ich es mir gleich nicht vorstellen.“ – „Ich hätte mir gewünscht, dass Sie mich erstmal fragen.“ – „Das ist durchaus berechtigt. Sie müssen mich aber auch verstehen. Der Vorwurf ist ungeheuerlich.“ – Der Zeuge war ein pflegender Mitarbeiter einer anderen
Station, der sich, als er mich sah, doch nicht mehr sicher war, ob ich es war. „Haben Sie auch einen pinkfarbenen Rollstuhl?“
Na klar. Mit Glitzerstaub. Und heute ist schwarz dran. Morgen weiß. Und so habe ich für jeden Tag der Woche einen anderen Stuhl in unterschiedlichen Farben. Alle von der Krankenkasse. Und feiertags aus Gold. Aus ästhetischen Gründen. Mit passender Brille und passendem BH. Ich habe kein Wort mehr gesagt, sondern bin nur noch raus und in mein Zimmer. Zehn Minuten später kam meine Chefin angedackelt, um sich zu entschuldigen. Wenigstens das.