Es war mal wieder so ein Erlebnis, das nur einer Stinkesocke passieren kann. Es ist inzwischen schon so, dass meine Leute mich regelmäßig fragen: „Wieso passieren dir ständig Dinge, die anderen Menschen einmal im Leben passieren?“ – Ich weiß, ein Faktor ist mein beim Unfall erworbener Idiotenmagnet. Aber da muss mindestens noch ein zweiter Faktor sein. Ich bin noch nicht ganz dahinter gekommen.
Zu meinem Job gehören auch Nachtdienste. Im Studium konnte ich mich einigermaßen davor drücken, das ist nun vorbei. Nun ist es zum Glück so,
dass nachts nur ein einziger Bereitschafts-Arzt für die Klinik vorgesehen ist. Das heißt: Nur, wenn es mal einen Notfall gibt, muss man
ran, ansonsten kann man schlafen. Man darf sogar nach Hause, wenn man die Klinik innerhalb von zehn Minuten erreicht. Sofern es sich um einen psychiatrischen Notfall handelt und man kein Psychiater ist, muss man die diensthabende Oberärztin oder den Oberarzt zu Hause aus dem Bett klingeln.
Ich wurde umfangreich ins Bild gesetzt vor meinem ersten Nachtdienst.
Ein wenig Bammel hatte ich ja schon, zum allerersten Mal ganz alleine für etwas verantwortlich zu sein, ohne jemanden fragen zu können. Aber was sollte schon großartig passieren bei 60 schlafenden Kindern und Jugendlichen? Die beiden pflegerischen Nachtwachen sagten: „Gehen Sie schlafen. Wenn was ist, rufen wir Sie an. Meistens ist es die Frage, ob wir was gegen Durchfall oder Erbrechen geben dürfen. Das kommt alle paar
Wochen mal vor. Richtige Notfälle gibt es hier eigentlich nicht.“
Also machte ich mich auf den Weg nach Hause, legte das Notdienst-Handy neben mein Bett und schlief schon bald ein. Allerdings habe ich mich nicht umgezogen, sondern meine Arbeitsklamotten angelassen
und mir nur eine Wolldecke übergeworfen. Falls es doch mal schnell gehen muss. Meine Wohnung ist mit dem Auto genau 2,8 km von der Klinik entfernt, tagsüber würde man es mit dem Auto in 6 bis 7 Minuten schaffen, nachts natürlich etwas schneller. Mit Ein- und Ausladen des Rollstuhls also unter zehn Minuten. Check.
Und, wie sollte es anders sein, es ist 3 Uhr und 9 Minuten in der Nacht, als das Telefon bimmelt. Die Pflegekraft meldet mir ein zwölfjähriges Mädchen mit akutem Asthma-Anfall, der trotz des bereits zwei Mal innerhalb von drei Minuten inhalierten Spray nicht weg geht. Patientin ist ansprechbar, aber ängstlich und zittrig. Gesicht ist blass, aber nicht blau. Pfeifendes Atemgeräusch. Asthma ist bereits bekannt.
Atemlos in der Nacht. Das hat gerade noch gefehlt. Also Socke raus aus dem Bett, rein in den Rollstuhl, raus aus der Wohnung, scheiße ist das kalt. Auto ist zum Glück nicht zugeparkt oder geklaut, die Scheiben sind außen nass von der Luftfeuchtigkeit. Die Zentralverriegelung blinkt, Licht geht an. Niemand ist unterwegs, die Straßenlaternen leuchten. Wann bin ich zuletzt um diese Zeit durch die Gegend gefahren? Rein ins Auto, Rollstuhl verladen, Tür zu, Auto an, Scheiben wischen, Sitzheizung an (bibber), Abfahrt. Ich muss durch meine Wohnstraße und anschließend darf man nur links abbiegen und muss durch das ganze Wohngebiet, um auf die Hauptstraße zu kommen. Diese Regelung hat man geschaffen, damit die Wohnstraße bei überfüllter Hauptstraße nicht als Schleichweg genommen wird. Aber nachts um kurz nach drei Uhr? Leck mich.
Rechts abbiegen, die gesperrten fünf Meter vorsichtig vortasten, natürlich sind dort keine Vorfahrt-Schilder, weil man da ja eigentlich nicht so herum durchfahren darf, also lass ich die zwei Autos durch, die
um diese Zeit hier herumfahren. Ein Lieferwagen, ein Taxi. Das nächste Auto ist weit genug entfernt. Also los. Ich bin auf der Hauptstraße, habe mindestens zwei Minuten gespart. Nun an der zum Glück abgeschalteten Ampel rechts in eine Seitenstraße abbiegen. Einen langgezogenen Berg hoch. Schneller als 50 kann man hier nicht fahren, dafür ist die Straße zu eng. Oben müsste ich links und gleich wieder rechts, dann weiter geradeaus. Und nach einer weiteren Kreuzung wäre da schon die Klinik. Aber bis zum „links und gleich wieder rechts“ komme ich nicht. Hinter mir kommt jemand, der es scheinbar noch eiliger hat. Es ist das Auto, was eben noch in weiter Entfernung war. Und bevor ich ein zweites Mal in den Rückspiegel schaue, blinkt mich dessen Fahrer drei, vier Mal per Lichthupe an. Hatte er es noch eiliger als ich? Ich gucke in den Rückspiegel, und wie könnte es anders sein? Dort spiegelt sich in roten Lettern: „STOP Polizei.“
War klar. Einmal bin ich in so einer Situation. Einmal biege ich falsch herum ab. Ein einziges Mal. Und zack, haben sie mich am Haken. Wie oft sehe ich Leute, die bei Rot über Ampeln donnern oder mich mit 100 überholen, obwohl nur 50 erlaubt sind? Da passiert gefühlt nie was. Aber bei mir wieder. Ich hatte mir vorher keine Gedanken gemacht, ob es schlau ist, was zu sagen. Aber ich denke mir: Es gibt keine bessere Ausrede.
Die beiden Herren kommen mit Taschenlampen links und rechts an mein Auto. Ich öffne das Fenster. „Guten Morgen, eine Verkehrskontrolle. Bitte stellen Sie den Motor ab und schalten Sie die Innenbeleuchtung an.“ – Ich denke mir so: Mach erstmal das, was er sagt. Bevor das eskaliert. „Ich hätte gerne von Ihnen Fahrzeugschein, Führerschein und Pesonalausweis, bitte.“ – „Nee, das ist jetzt wirklich schlecht, ich bin
unterwegs zu einem medizinischen Notfall. Kann ich später zu Ihnen auf die Wache kommen?“ – „Wer hat einen medizinischen Notfall? Sie?“ – „Ich habe Rufbereitschaft in der …-Klinik und dort liegt ein Kind mit akuter Atemnot.“ – „Jetzt aktuell?“ – „Ja.“ – „Und in welcher Funktion sind Sie
dort?“ – Ich nenne ihm meine Funktion. Er fragt: „Ist das lebensbedrohlich?“ – „Das kann schon lebensbedrohlich werden, ja.“ – „Dann begleiten wir Sie und machen alles weitere dort. Sie fahren vorweg. Sollten Sie versuchen zu flitzen, bekommen Sie ein ernsthaftes Problem.“
Ich fahre weiter. Verfahre mich in der Aufregung fast noch. Direkt vor die Klinik. Chefarztparkplatz ist frei und die Chefärztin kommt sowieso jetzt nicht. Zack, Auto aus, Tür auf, Rollstuhl ausladen, umsetzen, Auto zu, abschließen, Rollstuhlrampe hoch. Tür ist zu. Passt mein Schlüssel auch an der Eingangstür? Das hatte ich noch nie ausprobiert. Er passt. Die beiden Polizisten fragen, ob sie kurz mit rein kommen dürfen. Ich lasse sie mit rein. In einem Behandlungszimmer am Ende des Ganges brennt Licht und die Tür steht offen. Das fällt sofort auf, weil sonst nur die Nachtbeleuchtung im Flur brennt. Die beiden Polizisten kommen hinter mir her. „Sie sind ganz schön flott unterwegs“, meint der eine. Klar, ist ja auch ein Notfall, denke ich mir
grinsend.
Ich komme um die Ecke. Das Mädchen sitzt angelehnt auf einer Untersuchungsbank, ist mit einer Wolldecke halb zugedeckt, hat bereits ein Pulsoxymeter am Finger, Sauerstoff unter der Nase und einen Venenzugang gelegt bekommen. Ihre Lippen sind leicht bläulich, Sauerstoffsättigung 82%, Puls 135. Das pfeifende Atemgeräusch beim Ausatmen höre ich schon an der Zimmertür. Kalter Schweiß auf der Stirn. Ich frage das Mädchen, wann das los gegangen ist. Um sechs Wörter zu sprechen, muss sie drei Mal atmen. Sie fängt zu husten an. Ich kann ein Atemgeräusch in der Lunge hören. Das Asthmaspray war unter Aufsicht der Pflegekraft zwei Mal korrekt inhaliert worden.
Bekomme ich die Richtlinien im Kopf abgerufen? Milligramm wie Körpergewicht. Oder? Doch, nicht nervös werden. Ich entscheide mich für 40 mg Prednisolon als einmalige Dosis. Salbutamol hat keine Wirkung gezeigt, also keine weiteren Experimente, sondern Theophyllin intravenös
als Bolus über 20 Minuten. Die Infusion hängt dran. Ich möchte das Kind
gerne in eine Akutklinik verlegen lassen und klingel meine Oberärztin aus dem Bett. „Nee, wenn das besser wird, bleibt sie bei uns am Pulsoxymeter. Sie ist psychisch nicht stabil genug, um sie in ein fremdes Krankenhaus zu verlegen. Und die Eltern sind da keine Hilfe.“
Okay. Nicht meine Entscheidung, nicht meine Verantwortung. Ich dokumentiere das, beruhige das Mädchen, spreche mit ihr, dass es gleich besser wird. Fünf Minuten später kommt ihre Gesichtsfarbe wieder, der Sauerstoffwert steigt und steigt und steigt und erreicht innerhalb von zehn Minuten die magische 90%-Marke. Nach fünfzehn Minuten wackelt der Wert zwischen 95 und 96 Prozent hin und her. Schluss mit Theophyllin. Das EKG malt wunderhübsche Kurven. Das Atemgeräusch ist deutlich besser,
das Mädchen hustet jede Menge Schleim ab. Tränen kullern über ihr Gesicht.
Wo sind eigentlich die Polizisten? Weg! Haben sich leise aus dem Staub gemacht. Wollten wohl nur gucken, ob das eine doofe Ausrede war. Ich schreibe und dokumentiere. Das Mädchen weint. Hat in die Hose gepinkelt. Sieht insgesamt erleichtert aus. „Darf ich Sie mal in den Arm
nehmen?“, fragt sie mich. Ich streiche ihr über die Wange, sie drückt meine Hand mit ihren beiden Händen an sich.
Nach einer Stunde darf sie wieder in ihr Bett. Sie soll das Pulsoxymeter dran lassen. Meine Nacht ist vorbei. Als ich 20 Minuten später nach ihr schaue, schläft sie. Sauerstoffsättigung 97%. Als wäre nichts gewesen. Der Rest der Nacht verläuft ohne weitere Probleme. Heute
morgen kommt die Oberärztin zu mir ins Stationszimmer und sagt: „Sehen Sie, ging auch ohne Verlegung. Und fahren Sie Ihr Auto vom Chefarztparkplatz, bevor es Ärger gibt.“
Und das Mädchen? Wurde heute im Rahmen einer Konsiluntersuchung einem
Lungenfacharzt in der Kinderklinik vorgestellt. Kam zurück: Therapie weiter wie bisher. Kein Wort über die letzte Nacht, außer eine Kenntnisnahme. Okay?! Ich werde mich daran gewöhnen müssen, dass ich kein Feedback bekomme. Und dass das heißt: Alles richtig gemacht. Ansonsten würde wohl jemand meckern.
Kurz vor Feierabend spricht mich eine Dreizehnjährige auf dem Flur an: „Haben Sie … heute nacht behandelt?“ – „Erzählt sie das?“ – „Ja. Sie
hat mir erzählt, dass sie ganz schwer Atemnot hatte, und froh war, als endlich ein Arzt gerufen wurde. Und dann kamen Sie um die Ecke, und sie dachte, Sie können das bestimmt noch nicht richtig, weil Sie noch ganz neu und sehr jung sind. Aber dann konnten Sie ihr sehr gut helfen und jetzt findet Sie sie super klasse.“