Mehr als eine Nacht

Am Montag war ich mit Helena schwimmen. Im Schwimmbad. Wir hatten ein Becken fast ganz für uns alleine, wir hatten eine Badaufsicht fast für uns alleine und wir haben im flachen Wasser angefangen. In Rückenlage. Es hat einige Zeit gedauert, bis sie sich soweit fallen lassen konnte, dass sie sich flach in Rückenlage auf das Wasser gelegt und ihre Arme ausgebreitet hat. Der schwierigste Punkt war, dass sie merken musste, dass das Wasser sie trägt. Dazu taucht in Rückenlage der Kopf fast komplett ein, am Ende sind die Ohren unter Wasser und nur die Augen, die Nase und der Mund schauen raus. Als Helena verstanden hatte, dass sie bis an diese äußerste Grenze gehen muss, um Erfolg zu haben, klappte es. Ein paar Mal habe ich die Kopfhaltung korrigieren müssen, damit ihr das Wasser nicht über den Mund läuft, aber dann lag sie, anfangs noch etwas verkrampft, später recht locker, auf dem Wasser. Am Ende hat sie sogar zwei, drei Mal mit ihren Armen Schwung gegeben. Es wird noch zwei, drei Stunden dauern, bis sie die erste Bahn alleine schwimmt. Aber sie hat verstanden und Marie zu Hause als allererstes ganz stolz erzählt, dass sie das Schwimmen lernen wird. Der übliche Satz kam auch von ihr: Sie hätte nicht geglaubt, dass das geht.

Am frühen Abend bekam ich einen Anruf. Ob ich bitte, bitte einen einzelnen Nachtdienst machen könnte. Eine Kollegin sei krank geworden und man könne die Quote nicht mehr einhalten, die man bräuchte. Auf einen Nachtdienst bereite ich mich ja gerne vor, indem ich mich nachmittags sehr ausruhe und nicht noch Schwimmen gehe. Aber okay. Am Ende musste ich gar nichts machen, bin um elf Uhr in ein Bereitschaftszimmer gerollt, habe mich hingelegt, bin eingeschlafen und baute plötzlich eine weinende Männerstimme in meinen Traum ein, die tatsächlich im Bereitschaftszimmer herzzerreißend schluchzte: „Das Paradies ist abgebrannt. Ich hab Heimweh, ich will nur weg. Ganz weit weg. Ich will fort. Ganz weit fort.“ – Ich wachte auf und im selben Moment brüllte Purple Schulz: „Ich will raus!“ scheppernd durch den Radiowecker, dessen Sleeptimer ich benutzt hatte. Ich musste mich erstmal orientieren, bevor ich mit Gänsehaut am ganzen Körper das Ding im völlig abgedunkelten Zimmer gefunden und abgestellt hatte. Wieso um alles in der Welt muss man sowas senden, wenn Socke einschlafen will?

Am nächsten Morgen bin ich wieder aufgestanden und nach Hause gefahren. Habe frische Brötchen mitgebracht und anschließend damit begonnen, unsere Bewerbung für Helena zu schreiben. Sie hat inzwischen gefragt, ob sie nicht auch länger bei uns bleiben könnte. Ob wir es uns nicht vorstellen könnten, dass sie bis zum Halbjahreswechsel [in der Schule, also Ende Januar 2019] bleibe. Sie wisse, dass sie eine Last sei, aber wenn sie immer lieb sei und keinen Ärger mache, dann sei sie doch vielleicht nur eine kleine Last und es wäre dann vielleicht einen Versuch wert.

Ich habe ihr erstmal erklärt, dass sie keine Last ist. Sondern ihre Berechtigung hat mit allen Herausforderungen, die ein Kind oder ein pubertierender Teenager mit nach Hause bringt. Mit allen Launen und jedem Ärger, den das mitbringt. Aber dass so etwas eben auch nur funktionieren kann, wenn wir auf diese Herausforderungen eine Antwort finden, mit der alle leben können. Und dass es sehr fraglich ist, ob wir dafür überhaupt die Zustimmung des Jugendamtes bekämen. Und wenn, dann nicht für ein halbes Jahr. Zwar immer mit der Option, etwas, was überhaupt nicht mehr funktioniert, zu beenden, aber schon auf Dauer ausgerichtet. Helena fand das klasse. Allerdings weiß ich auch, dass ihre Angst vor dem Wohnen in einer Einrichtung ihre Meinung sehr beeinflusst.

Wir haben das Angebot, dass sie eine Ganztagsschule besucht. Damit wird es sich hinbekommen lassen, dass immer einer von uns erreichbar ist. Marie und ich werden nicht gleichzeitig Nachtdienst haben, das lässt sich immer einrichten. Und für alles andere lassen sich individuelle Lösungen finden. Eine Zwölfjährige ist kein Baby mehr und sie wird auch mal eine Stunde oder zwei alleine zu Hause sein können, ohne dass die Welt davon untergeht. Marie und ich wissen, dass wir damit eine ernste Entscheidung getroffen haben, von der die Entwicklung eines
Kindes abhängig ist. Aber wir sind uns sicher, dass wir es schaffen können und dass wir es gut hinbekommen werden. Wir haben mehr als eine Nacht darüber geschlafen.

Helena ist übrigens als Klappenkind zu Pflegeeltern gekommen.

Schlagwörter:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert