Räuber-Essen

„Ich kann nicht schwimmen lernen, ich bin behindert“, sagte Helena vor etwas mehr als einem Jahr. Man hatte ihr ernsthaft eingeredet, dass ihre Cerebralparese, die verhältnismäßig leicht ausgeprägt ist, der Grund dafür sein sollte. Vor einem Monat hat sie ihr Seepferdchen-Abzeichen gemacht, also einen Sprung ins Wasser und anschließend 25 Meter schwimmen sowie einen Gegenstand aus schultertiefem Wasser heraufholen. In der letzten Woche hat sie ihren Jugendschwimmschein in Bronze gemacht, also das, was früher der „Freischwimmer“ war. Ich gebe zu, wir haben fleißig geübt. Vermutlich wesentlich mehr als man mit anderen Kindern übt. Aber sie hat es souverän geschafft, und für sie gilt, was für viele Menschen mit Einschränkungen gilt: Wasser ist ihr Element.

Es ist für mich ein Lehrstück. Das ewige Kapitel „Glaube versetzt Berge“. Solange sie geglaubt hat, dass sie es wegen ihrer Einschränkung nicht kann, konnte sie es auch nicht. Als sie bei Marie und bei mir gesehen hat, dass man auch mit einer Querschnittlähmung gut schwimmen kann, gab es zuerst keine Argumente mehr. Und später gab es den Glauben daran, dass es machbar sei. Einmal mehr gilt, dass wir nicht die Steine setzen dürfen, aus denen eine Barriere wird. Es ist kein Hexenwerk, an jemanden zu glauben und ein Kind ernst zu nehmen.

Ein Bereich, den wir gerade sehr aufwändig be-ackern, ist ihre kindliche Unbefangenheit. Ich weiß, es gibt verschiedene Theorien, nach denen man eine einmal erlangte Befangenheit nicht mehr ablegen kann. Eingeschränkt durch Verbote, konfrontiert mit nicht altersgemäßen Aufgaben, eingeschüchtert durch die Angst vor Strafen, vielleicht aber auch motiviert von der Aussicht, bei uns bleiben zu dürfen, benahm sich Helena anfangs auffällig „artig“, immer auf der Hut, nichts falsch zu machen. Als ihr mal ein Glas herunterfiel, erwartete sie Schläge.

Ich teile die Theorie, einmal erlangte Befangenheit nicht wieder ablegen zu können, nicht. Und umso mehr haben Marie und ich uns kürzlich
darüber gefreut, als Helena mit ihrer derzeit besten Freundin, jene Tochter einer Kollegin von Maries Mutter, die mit Helena zusammen zur Schule geht, sich bei uns zu Hause verabredet hat und, als Krönung des Treffens, ein gemeinsames Abendessen angezettelt hat: Die beiden haben sich in den Garten gesetzt, mitten auf den Rasen, zwischen ihnen lag die
Platte eines zusammengeklappten Campingtisches, reichlich gedeckt. Die Mission dabei: Räuber-Essen. Messer und Gabel gab es nicht, Tischmanieren auch nicht. Keine eigenen Teller, es wurde mit den Händen aus Schüsseln gegessen, schmatzend, rülpsend, kleckernd und vor allem: Ausgelassen und albern. Die beiden sahen aus wie die Ferkel und ich bin sehr froh, dass sie sich nach draußen verzogen und alte Sachen (von mir)
angezogen haben. Als sie wieder rein wollten, habe ich beide mit T-Shirt und kurzer Hose gleich erstmal unter die Gartendusche gestellt, das gab die nächste Gaudi.

Inzwischen ist Helena so weit, dass sie ihre Grenzen austestet. Was zwar anstrengender ist, aber mir und auch Marie eintausend Mal lieber als ein ängstliches Kind. Beispielsweise im Anschluss an das Räuberessen
meinte sie, auch beim gemeinsamen Fernsehen ständig betont laut rülpsen
zu müssen. Zwei, drei Mal habe ich sie angeguckt, das reichte aber nicht. Marie fragte: „Brauchst du Aufmerksamkeit? Möchtest du gekrault werden?“ – Sie rülpste ein „Nein“ zurück. Ich sagte: „Och Helena, das ist eklig.“ – Ihre Antwort: „Ja, tschuldigung, das sollte eigentlich hinten raus.“

Lachen wäre jetzt vermutlich kontraproduktiv. Marie übernahm das Wort: „Wir sind hier nicht in der Eckkneipe. Geh bitte in dein Zimmer und lass uns hier in Ruhe Fernsehen. Und mach die Tür hinter dir zu, wir
wollen das nicht hören.“ – Helena guckte mich an, ich sagte: „Tschüss.“

Es dauerte keine fünf Minuten, dann kam sie wieder. Mit feuchten Augen, bis zur Zimmertür: „Kann ich mich bitte entschuldigen?“ – „Sicher.“ – „Das war doof von mir. Ich weiß nicht, warum ich das gemacht
habe. Ich hatte irgendwie so einen Lauf und fühlte mich gut und … eigentlich möchte ich keinen Streit.“ – Marie antwortete: „Damit wir uns
nicht falsch verstehen: Niemand verlangt von dir, dass du die Luft in deinem Magen behältst. Aber das kann man leise machen und die Hand vor den Mund halten. Und wenn das zwischendurch vielleicht einmal richtig laut sein muss, habe ich auch kein Problem damit. Aber in einer Tour und
dann noch mit so einem ekligen Spruch dazu …“ – „Marie? Es sollte lustig sein und es ist einfach daneben gegangen. Okay?“

Abgehakt.

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