Ein Stein in der Nacht

Und gleich wieder ein 24-Stunden-Dienst. Auch wenn die Hälfte davon
Bereitschaft ist und ich zwischendurch versuche, zu schlafen, geht das so nicht weiter. Eigentlich möchte ich nicht mal 40 Stunden arbeiten, derzeit sind es aber eher 60 Stunden. Im Durchschnitt. Wenn sich hier von Seiten der Klinik keine Verbesserung in der Personalplanung ergibt, werde ich erneut den Arbeitsplatz wechseln. Das ist einfach too much.

Und es ist ja nicht so, dass man nachts durchschläft. Sondern in einer Tour ist irgendwas los. Kaum hat man die Augen zu, piept der Melder. Und meistens ist es irgendetwas Unnötiges. Hinzu kommt ja auch, dass ich danach nicht sofort wieder einschlafe. Ein Beispiel, eins von vielen, und ich warne schon vor, es wird eklig, möchte ich gerne mal notieren.

Es ist genau 3 Uhr und 24 Minuten, als es piept. Weil ich in dem Bereitschaftszimmer sowieso nicht gut und tief schlafen kann, bin ich sofort hellwach. Licht an, Wolldecke weg, rüber in der Rollstuhl, nichts
vergessen, Tür auf, Licht aus, los. Durch eine elektrisch öffnende Tür ins Nachbargebäude, selbes Stockwerk, Stationszimmer. Die Schwester: „Man schickt uns ein 12 Jahre altes Mädchen mit Atemproblemen aus der Notaufnahme rüber.“ – „Aus der Notaufnahme?“ – „Ja. Die haben dort keine
Kapazitäten und es ist ein Kindernotfall.“ – „Was?!“

Mein Puls steigt sofort auf gefühlte 200 Schläge pro Minute. Die schicken jemanden mit Atemnot aus dem Schockraum weg? Aus Kapazitätsgründen? Entweder sind die Kollegen nicht ganz dicht oder das ist irgendwas, was nachts nichts in der Notaufnahme zu suchen hat. Okay,
erstmal cool bleiben. Im Behandlungsraum schonmal Licht einschalten, Überwachungsgeräte sind alle bereit, eine Fachkraft aus der Pflege ist auch bereit. Nur die Patientin kommt nicht. Fünf Minuten vergehen, zehn Minuten vergehen. Dann, endlich, geht die Aufzugstür auf. Ein weinendes Mädchen, vermutlich 12, kommt zu Fuß. Gesichtsfarbe normal, von Atemnot keine Spur. Zwei überforderte Eltern, sehr ungepflegt, und eins, zwei, drei, vier weitere Kinder. Mitten in der Nacht. Zwei quengeln, einer hat
einen Ball in der Hand und das vierte spielt mit der Aufzugstür und wird ein paar Sekunden später vom Vater an der Jacke weitergezogen.

Okay. Also tatsächlich irgendein banales Problem. Dafür unterbricht man mal wieder meinen Schönheitsschlaf. „Wer ist die Patientin? Bitte mitkommen, Mama oder Papa bitte mitkommen, alle anderen setzen sich bitte da drüben in den Warteraum und sind leise, hier schlafen Patienten.“ – Der kleine Junge beginnt, auf dem Flur mit dem Ball zu spielen. Die Klamotten der Mutter riechen, als kämen sie aus einer drei Jahre nicht gelüfteten Wohnung. Das Kind setzt sich auf die Behandlungsbank. Ich stelle mich vor. „Was führt dich denn mitten in der
Nacht zu mir?“

Die Mutter antwortet, das Kind habe eine fette eitrige Mandelentzündung und das sei sehr schmerzhaft und unangenehm und deshalb
bekomme die Tochter kaum noch Luft. Ich spreche das Kind an, das Kind hatte gerade aufgehört zu heulen, fängt aber jetzt wieder an. Beim Atmen
weht mir ein übler Mundgeruch entgegen. Eitrige Mandelentzündung? Mitten in der Nacht? Alleine schon von dem Gestank weiß ich, dass da was
nicht stimmt. „Wer hat die Mandelentzündung festgestellt?“, frage ich.

Das Kind weint: „Meine Mutter. Das tut richtig weh im Hals und ich kann kaum richtig schlucken und kriege keine Luft.“ – „Und seit wann ist
das so?“ – „Ich bin aufgewacht und dann bin ich zu meiner Mutter und habe sie geweckt.“ – „Wir sind sofort mit ihr in die Notaufnahme.“

„Dann lass mich mal bitte einmal in deinen Mund gucken“, sage ich, organisiere mir eine Lampe und einen Spatel. Handschuhe habe ich sowieso
schon an, vorsichtshalber binde ich mir noch einen Papier-Mundschutz um. Nicht nur wegen möglicher Bakterien, sondern vor allem wegen des Gestanks, der mich erwartet. Meine Kollegin aus der Pflege stellt unterdessen erstmal das Fußballspiel auf dem Flur ein. Meine Patientin will den Mund nicht aufmachen. „Es tut so weh.“

Irgendwann macht sie den Mund dann doch auf. Keine eitrige Mandelentzündung. Überhaupt keine Entzündung. Übler, penetranter Mundgeruch und, vermutlich dafür verantwortlich, rechts ein fetter Tonsillenstein, der rund einen halben Zentimeter weit herausschaut. Das würde ein Fremdkörpergefühl erklären, aber Schmerzen? Und von Luftnot kann bei einer Sauerstoffsättigung von 100% und rosigen Schleimhäuten keine Rede sein. „Du hast einen Mandelstein, der vermutlich der Grund für deine Beschwerden ist.“ – „Kann man daran sterben?“ – „Nein. Das ist
völlig harmlos, kann aber im Hals etwas pieksen. Ich würde, damit die Beschwerden aufhören, ihn entfernen.“ – „Ich will keine Spritze.“ – „Da brauchen wir keine Spritze.“ – „Ohne Betäubung will ich auch nicht!“ – „Da kann man nichts betäuben. Der Stein sitzt in einer Falte deiner rechten Gaumenmandel.“ – „Mama, ich will nach Hause.“

„Meistens löst er sich von alleine. Falls er sich löst, spuckst du ihn bitte sofort aus, hier in die Schale. Okay? Nimm mal bitte deinen Kopf ganz weit nach hinten. Und jetzt mal bitte den Mund weit auf- und wieder zumachen.“ – Er löste sich nicht. Ich besorgte mir einen langen Wattestab, den ich etwas befeuchtete. „Schau mal bitte: Damit drücke ich
jetzt einmal gegen dein Zahnfleisch, oben hinter dem letzten Zahn. Ist das okay? Das ist nur ein etwas längeres Wattestäbchen.“ – Sie nickte und machte den Mund auf. Und hielt still. Das Problem wird der Würgereiz
sein. Wenn ich da drücke, wo ich drücken müsste, wird sie sofort ganz extrem würgen. Also ganz langsam herantasten. Eine riesengroße kalkige, stinkende Masse blitzt mir entgegen. Der Stein sitzt locker. Lange Pinzette an den Augen des Kindes vorbei, ganz vorsichtig ziehen, sie würgt nicht.

Zack, da ist er. Sie fängt kurz an zu würgen, aber da ist schon alles
draußen. Sie weint schon wieder. „Ist alles erledigt. Hier ist der Stein. Hast du ganz tapfer gemacht.“ – Schlagartig hört sie auf zu weinen. „Die Schmerzen sind weg. Igitt, warum stinkt der so?“ – „Das sind Speisereste, tote Zellen und das alles in anaerober Atmosphäre. Also ohne Sauerstoff. Das stinkt dann so. Und deswegen entsorgen wir den
gleich. Möchtest du am Waschbecken deinen Mund mal kräftig ausspülen? Und dann zu Hause vielleicht mal mit etwas Mundwasser gurgeln. Und nochmal schön Zähne putzen. Okay?“

Das ganze Behandlungszimmer stinkt von diesem kleinen Stein. Und so ein Stein bildet sich nicht innerhalb von Stunden oder Tagen. Und eigentlich muss man damit auch nicht in die Notaufnahme. Aber wenn ich schonmal wach bin…

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