Wenn mich am Morgen nach zwölf Stunden Stationsdienst und weiteren zwölf Stunden Bereitschaftsdienst, in denen ich keine halbe Stunde gelegen habe, jemand fragt, ob ich die nächste Zwölf-Stunden-Schicht auch noch übernehmen könnte, weil so viele Leute krank sind, und ich dann ablehne und dann mir noch blöde Kommentare anhören muss, dann ist ein Zeitpunkt gekommen, wo ich mich – vorbei an allen Strukturen und ohne Rücksicht auf Befindlichkeiten – beim obersten Chef melden muss. Er
sei ja immer für mich da, hat er mir an meinem ersten Tag gesagt. „Dann
werde ich ihn mal beim Wort nehmen“, dachte ich mir und war gespannt, ob er sich noch an mich erinnern würde, denn wir hatten seitdem nichts mehr miteinander zu tun.
So überstand ich die ersten drei Stunden der dritten Zwölf-Stunden-Schicht in Folge noch irgendwie, um mir nicht sagen lassen
zu müssen, mir wären die Gesundheit und das Leben von Kindern egal. „Ich müsste bitte unverzüglich mit dem Chef sprechen“, sagte ich zu seiner Mitarbeiterin im Vorzimmer. Ob ich einen Termin hätte, wollte sie
wissen, und als ich verneinte, holte sie bereits Luft, aber ich fuhr ihr in die Parade: „Er hat gesagt, er sei immer für mich da.“ – „Er telefoniert gerade. Warten Sie einen Moment, wenn ich sehe, dass er aufgelegt hat, versuche ich, dazwischen zu kommen. Sie arbeiten hier?“
Nee, ich hab die grünen Klamotten und das Stethoskop draußen im Müll gefunden. Ich hielt ihr meine Chipkarte, die an meiner Brusttasche hing,
entgegen. Sie winkte ab, vielleicht hatte sie im selben Moment gemerkt,
dass es schlauere Fragen gibt. Kurze Zeit später öffnete sich die Tür und der Chef kam heraus. Legte seiner Sekretärin eine Mappe auf den Tisch, kam auf mich zu und fragte: „Guten Morgen, wollen Sie zu mir?“ – Ich nickte, ohne ein Wort zu sagen und ohne ein Lächeln aufzusetzen. Das
hat ihn offenbar irritiert: „Ist was passiert?“, fragte er. Ich schüttelte den Kopf und antwortete: „Noch nicht. Ich müsste Sie mal dringend sprechen.“
„Kommen Sie rein“, sagte er, hielt mir erst umständlich die Tür auf, schloss sie dann hinter mir, setzte sich auf seinen Stuhl, klickte irgendwas auf seinem PC weg und fragte: „Was gibt es denn so Dringendes?“ – „Ich werde jetzt gleich nach Hause fahren. Weil meine Stationsleitung damit nicht einverstanden ist und mir bereits gesagt wurde, dass ich damit die Gesundheit der Patienten gefährde, möchte ich Sie vorher informieren.“ – „Warum wollen Sie denn nach Hause fahren?“ – „Ich kann nicht mehr. Ich bin physisch und psychisch erschöpft.“ – „Sie sehen auch nicht gut aus. Bedrückt Sie etwas? Sie haben so verweinte Augen.“ – „Ich habe nicht geweint, ich bin übermüdet.“ – „Wie kommt das?“, fragte er und fing an, gelangweilt auf seinem PC zu tippen.
Ich sagte: „Ich konnte heute nacht nur etwa zwanzig Minuten ruhen, weil so viel los war. Ich war mit Kollege … alleine für alle vier Stationen da und wir mussten zeitweise priorisieren, weil wir nicht alle
dringlichen …“ – Er guckte mich an und unterbrach mich: „Verstehe ich das gerade richtig, Sie haben schon einen Nachtdienst hinter sich?“ – „Nein, einen Bereitschaftsdienst und einen Tagdienst. Ich bin jetzt seit
über 27 Stunden durchgehend im Dienst und habe zusammengerechnet vielleicht 45 Minuten Pause machen können.“ – „Was?!“ – „Ja, es ging nicht anders. Immer, wenn ich …“ – „Das meine ich nicht. Habe ich das richtig verstanden, Sie haben bereits 24 Stunden Dienst gehabt und sollen jetzt noch eine Schicht dranhängen?“ – „Ja.“ – „Nein. Das kommt nicht in Frage. Sie machen sofort Feierabend. Sie können gehen. Entschuldigung, rollen. Ich regel das auf Ihrer Station. Die Kollegin ruft Ihnen ein Taxi. Sie fahren bitte nicht mehr mit dem Auto.“
„Das geht ja schon seit Wochen so. Ich habe aus den letzten sieben Tagen schon über 80 Stunden auf der Uhr. Warum wird das toleriert?“ – „Frau Socke, diesen Tonfall schätze ich überhaupt nicht. Ich sehe Ihnen aber nach, dass Sie völlig übermüdet sind. Ich kontrolliere Ihre Stunden
nicht, dafür habe ich gar keine Zeit. Und es stünde ja auch nie dabei, warum sich ein Arbeitszeitkonto schnell füllt oder schnell leert. Da haben Sie schon ganz richtig entschieden, zu mir zu kommen. Dann kann ich etwas unternehmen. Das werde ich auch gleich tun, denn sowas wollen wir hier nicht. Dass man mal eine zweite Schicht übernehmen muss, weil Not am Mann ist, kommt vor. Das musste ich früher auch. Aber nach 24 Stunden ist keiner mehr fit. Sie fahren jetzt nach Hause und schlafen sich aus. Können Sie am Montagmorgen wiederkommen?“
Kann ich. Auf der Rückfahrt im Taxi rief mich mein Kollege an, der mit mir zusammen ebenfalls schon die Nacht gearbeitet hatte. Ich dachte erst, er wollte sich bei mir beschweren, dass er nun noch mehr Arbeit aufgehalst bekommen hat, und überlegte einen Moment, ob ich das wegdrücke, aber er erzählte mir, dass der Klinikdirektor ihn auf Station
im Gang abgefangen und gefragt hätte, wie lange er bereits im Dienst sei. „Ich hab gesagt: Das ist die dritte Schicht in Folge. Da hat er gesagt: Sie fassen nichts mehr an und fahren sofort nach Hause. Nehmen Sie sich ein Taxi, damit Sie keinen Unfall bauen. Er hat mich gefragt, was ich gerade mache und sich bei mir entschuldigt.“ – „Das hat er bei mir nicht gemacht.“ – „Der war richtig in Fahrt. Ich möchte nur mal wissen, wen er jetzt alles von zu Hause geholt hat, denn außer uns beiden waren ja nur noch zwei weitere Leute da. Mit denen können sie unmöglich den Tagdienst machen.“ – „Ist das mein Problem?“ – „Nö. Meins auch nicht. Ich habe bis Montag frei.“ – „Ich auch.“