Nass und rot

Für den kommenden Donnerstagmorgen lädt uns das Jugendamt zu einem Gespräch ein. Wir werden gebeten, Helena dafür aus der Schule zu nehmen. Ich gehe davon aus, dass man uns spätestens dann sagen wird, ob Helena bei uns bleiben darf. Ich muss gestehen, dass ich schon jetzt extrem nervös bin. Ich hoffe, dass alles gut wird. Bitte drückt uns die Daumen!

Wir kommen inzwischen wirklich sehr gut miteinander zurecht. Wenn ich zurückdenke an ihre ersten Tage bei uns, hat sie sich wirklich sehr positiv verändert. Sollte sie nicht bei uns bleiben können, dürfte sie uns vermutlich immer wieder besuchen. Aber es würde uns allen Dreien das Herz bluten. Auch wenn wir alle wissen, dass ein Zusammenleben kein Spaziergang ist und auch nie sein wird, ziehen wir alle sehr viel positive Energie und Kraft daraus.

Auch wenn es immer wieder Situationen gibt, in denen ihre Vergangenheit sie einholt. Zuletzt hatten wir eine Situation, die einerseits so banal, andererseits so emotional war, dass ich für einen Moment zweifelte, ob wir überhaupt etwas richtig machen. „Alles“ macht sowieso niemand richtig, aber … mehrheitlich … irgendwie. Hoffentlich. Helena kommt aus der Schule, redet kaum, gibt kurze knappe Antworten, stochert in ihrem Essen, weicht meinen Blicken aus, guckt nach unten, ist aufgeregt, fast schon fahrig, kämpft offensichtlich mit ihrem Gewissen. Ich spüre, dass sie reden möchte, aber sich nicht den entscheidenden Ruck geben kann. Hat sie eine Klassenarbeit in den Sand gesetzt? Sich mit jemandem gestritten? Irgendwas verloren, beschädigt? Was ausgefressen? Mädchen, rede mit mir. Geteilte Sorgen sind halbe Sorgen und ich fress dich nicht auf. Ich darf nicht anfangen zu glauben, dass ich die Ursache für dieses Verhalten gesetzt habe.

Irgendwann war ich mit meinem Essen fertig. Sie stocherte in den Nudeln, schob sich von Zeit zu Zeit mal eine in den Mund, stocherte weiter. Ich rollte ein Stück vom Tisch weg. „Komm bitte auf meinen Schoß und lass dich trösten.“ – Sie schüttelte den Kopf. Ich sagte: „Du brauchst mir nicht zu sagen, was dich bedrückt, aber ich möchte, dass dich jetzt mal jemand in den Arm nimmt und dich lieb hat.“ – Wie auf Kommando kam sie auf meinen Schoß, klammerte sich an mich und fing bitterlich an zu weinen. Ich drückte ihren Kopf an meine Schulter. Sie würde gleich reden. Geduld ist gefragt.

„Ich bin so extrem wütend auf mich. Ich hab die totale Scheiße gebaut und möchte mich am liebsten selbst dafür verprügeln. Ich hasse mich“, schluchzte sie. Ich streichelte ihren Kopf. Irgendwann guckte sie mich an: „Jule, ich kann dir nicht sagen, was ich gemacht habe. Ich habe solche Angst, dass …“ – Sie sprach es nicht aus. Ich sagte: „Niemand verlangt von dir, dass du nie einen Fehler machst.“ – „Ich sag das jetzt einfach. Es bleibt dabei, du schlägst mich nicht, oder?“ – „Nein, Helena. Großes Ehrenwort. Egal, was du gemacht hast, ich schlage dich nicht.“ – „Du kriegst Post von der Polizei. Und ich habe dich angelogen. Dabei wollte ich das nie wieder tun und es hat so gut funktioniert, wenn ich die Wahrheit sage. Ich hasse mich.“

Seufz. Post? Hatte sie geklaut? Wohl nicht, dann hätte man sie wohl vorbei gebracht. Oder ich hätte sie abholen dürfen. Fangen wir mal mit der Lüge an. „Helena, alle Menschen lügen. Jeden Tag. Es ist nicht möglich, das ganz abzuschaffen. Mir ist aber wichtig, dass wir uns nicht belügen, weil wir über alles reden können. Und mir ist wichtig, dass du nicht alle Fragen beantworten musst. Du kannst immer sagen, dass du nicht antworten möchtest. Das ist besser als zu lügen.“ – „Aber dann kennst du die Antwort doch auch, wenn ich nichts sagen will.“ – „Nicht unbedingt.“ – „Doch.“

Okay. Irgendwann beruhigte sie sich und sagte: „Du hast mich neulich gefragt, warum das eine T-Shirt auf dem Wäscheständer so nass ist.“ – War das jetzt etwa das Problem? Ich wollte die Wäsche abnehmen, alle Sachen waren trocken, nur ein T-Shirt war fast tropfnass. Auf meine erstaunte Nachfrage hatte Helena gesagt, sie habe sich beim Zähneputzen mit Wasser bekleckert, sie habe es anschließend ausgespült und auf den Wäscheständer gehängt. Ich hatte ihr gesagt, sie könne das auch einfach zur Schmutzwäsche tun. Damit war das für mich erledigt. Hätte sie auf meine Frage: „Wieso ist das denn noch so nass?“ einfach mit „Keine Ahnung“ geantwortet, wäre es auch erledigt gewesen. Es war meinerseits ein erstaunter Kommentar.

Nun sagte sie: „Ich habe dich angelogen. Ich war damit in der Badewanne.“ – „In der Badewanne? Hast du schon mal für den Rettungsschwimmschein geübt?“ – „Ich hab was ausprobiert.“ – „Das musst du mir nicht erzählen. Ich finde es nur schade, dass du mich angelogen hast. Habe ich dich zu sehr unter Druck gesetzt mit meiner Frage?“ – Sie guckte mich erstaunt an: „Ich selbst. Ich wollte, dass es keiner merkt und als dann die Frage danach kam, habe ich mich tierisch erschrocken und falsch reagiert.“ – „Das darf dein Geheimnis bleiben. Ich wollte dich mit der Frage nicht in die Enge drängen. Ich hatte mich nur gewundert. Wir sind übrigens früher nach dem Training oft mit den Sportklamotten in den Badesee gesprungen. War ein lustiges Gefühl, wenn das so auf der Haut klebt.“ – „Kannst du mir verzeihen?“ – „Ja. Ist vergessen. Und was ist das mit der Polizei?“

„Ich bin aufgeschrieben worden. Ich habe gesagt, dass ich hier wohne. Der Polizist hat gesagt, es gibt demnächst Post und es kostet fünf Euro. Ich muss das selbst bezahlen vom Taschengeld und ich soll meine Eltern schonmal darauf vorbereiten.“ – „Oha, fünf Euro? Was hast du denn angestellt?“ – „Ich bin bei Rot über die Ampel gegangen.“ – „Du weißt schon, dass du mit 12 Jahren ein Vorbild für die jüngeren Schüler an eurer Schule bist? Wenn die das nachmachen, ohne zu überblicken, ob die Straße frei ist, ist das sehr gefährlich.“ – „Da waren keine jüngeren Schüler.“ – „Das weiß man nicht, den Polizisten hast du ja auch nicht gesehen. Oder?“ – „Wir waren nach Schulschluss in einer Vierergruppe, die anderen sind weggerannt und ich kam nicht so schnell hinterher und hätte mich fast noch auf die Fresse gelegt.“ – „Na super. Helena, bei Rot darf man nicht über die Ampel.“ – „Soll ich jetzt sagen, dass es nicht wieder vorkommt? Ich will das nicht versprechen. Und dann bleibe ich als Einzige an der leeren Straße stehen, während meine Leute schonmal vorgehen?“ – „Im Prinzip ja.“ – „Du bist noch nie bei Rot über die Straße?!“ – „Doch. Wenn man das aber zum Beispiel mit dem Auto macht, kann das richtig teuer werden. Mit Fahrverbot und so.“ – „Ich zahl die fünf Euro vom Taschengeld. Und dann ist gut. Okay?“ – „Ja. Geht
es dir jetzt besser?“ – „Ich bin immernoch wütend auf mich selbst.“

Ich weiß, dass Kinder in dem Alter viele Dinge noch falsch einschätzen. Ich merke aber auch, dass sie früher unheimlich unter Druck gesetzt worden sein muss. Dass sie noch immer Angst hat, bestraft zu werden. Und diese Angst generell da ist und nicht personenbezogen. Ob die bisherigen Pflegeeltern eine Ahnung davon haben, was sie angerichtet haben?

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