Seit über einem halben Jahr ist Helena nun bei uns. Im nächsten Vierteljahr wird es ein Gespräch mit dem Kosten tragenden Jugendamt geben. Dem sehen Marie und ich aktuell sehr gelassen entgegen. Unsere ganzen Sorgen, ob es uns gelingen würde, Helena dauerhaft bei uns aufzunehmen, waren zumindest kurz- und mittelfristig unbegründet. Eine langfristige Prognose kann zum jetzigen Zeitpunkt niemand abgeben, aber ich bin auch da entspannt. Ich glaube, sie hat sich sehr gut entwickelt,
ist gewachsen, ich glaube, nicht nur körperlich.
In den letzten 14 Tagen haben wir uns zwei Mal gezofft. Das Gute ist:
Wenn Helena mit Einem von uns Stress hat, sucht sie schnell die Nähe des Anderen. Sie braucht Frieden und kann es nur schwer aushalten, wenn etwas mal nicht harmonisch ist. Ich war früher genauso, wollte immer alles, was mich belastet, sofort aus dem Weg geräumt haben. Seit meinem Unfall und vor allem seit dieser letzten Übergriffigkeit, wegen der ich von Herbst 2015 bis Sommer 2017 nicht gebloggt habe, bin ich geduldiger geworden und kann auch ungeregelte Dinge, auch im zwischenmenschlichen Bereich, mal beiseite schieben und darauf vertrauen, dass später, in Ruhe und aus der Distanz, eine bessere Lösung gefunden wird, als wenn ich etwas in emotionaler Anspannung über das Knie zu brechen versuche. Aber so weit ist Helena noch lange nicht. Sie ist in dieser Hinsicht noch ein Kind, kann die Schwere einer Meinungsverschiedenheit nicht einschätzen und macht sich sofort um alles Sorgen. Sorgen von Kindern wiegen bekanntlich immer schwer.
Ich halte es dennoch für sehr wichtig, auch Grenzen zu zeigen, auch Kritik zu üben und ihr auch zu helfen, wie sie mit Kritik, Misserfolg, Fehlern oder eigenem Fehlverhalten umgeht. Das ist leider etwas, was viele Menschen nicht können. Helena ist da, wie ich finde, auf einem sehr guten Weg, wenngleich es noch viel zu tun gibt. Es hinterlässt einfach Spuren, wenn Helena früher irgendwas angestellt hatte und beispielsweise das Bad putzen musste. Allerdings hatte der Pflegevater Oberspacko vorher nochmal die Toilette benutzt – und extra nicht abgespült. Und wir reden hier nicht von kleinen Geschäften.
Richtigen Kummer haben wir mit ihr nicht. Da wir uns gut auf einander
einlassen können, würde ich unser aller Verhältnis sogar durchaus als pflegeleicht bezeichnen wollen. Nicht wissend, was uns so alles noch erwarten wird, aber im Moment: Pflegeleicht. Trotz Pubertät. Gezofft haben wir uns, wie gesagt. Da Helena unheimlich schnell resigniert, wenn
sie an ihre körperlichen Grenzen stößt und sie dann niemand an die Hand
nehmen kann. Sie ist aber in einem Alter, wo sie allmählich einen Weg finden muss, wie es an der Grenze weitergeht. Resignation und Gleichgültigkeit helfen ihr nicht.
Zum Beispiel soll sie in Mathematik etwas zeichnen. Was bei einer (wenn auch sehr leicht ausgeprägten) Muskeltonusstörung in den Armen und
Händen (als Symptom der Cerebralparese) sehr schwierig ist. Es ist sowieso schon schwierig, und hier liegt dann nochmal eine Schippe oben drauf. Sie darf ungenauer zeichnen, ihr wird im Rahmen eines Nachteilsausgleichs eine höhere Toleranz zugesprochen, aber sie soll es trotzdem machen. Helena ist dann so clever und macht die Zeichnung am PC, druckt das aus, klebt es ins Matheheft. Sie sitzt daran mindestens fünf Mal so lange wie andere Kinder, die einen Stift in die Hand nehmen.
Das ist für sie kein Problem. Aber sie nimmt halt keinen Stift in die Hand, weil sie sagt, dass das sowieso bescheuert aussieht. Und genau das
finde ich falsch: Ich möchte, dass sie die Zeichnung so gut es geht mit
der Hand macht, um das zu üben und zu trainieren. Wenn sie das dann obendrauf mit dem PC nochmal macht, um zu demonstrieren, dass sie weiß, wie es aussehen soll, ist das ein Bonbon. Das Bonbon soll aber nicht die
eigentliche Arbeit ersetzen.
Sie darf ihre Hausaufgaben auch am PC schreiben. Ich möchte aber, und
da achtet die Deutschlehrerin leider nicht drauf, dass sie die Rechtschreibüberprüfung abschaltet. Sie soll Rechtschreibung können. Und
nicht ständig mit Autokorrektur arbeiten und sich später darauf herausreden, dass der Computer falsche Wörter ersetzt hat. Wenn ich den falschen Moment erwische, kommen dann von ihr Reaktionen wie: „Das ist aber doppelter Aufwand. Ich muss das ja danach nochmal alles durchsehen.
Schneller ginge es, wenn der Computer gleich die falschen Worte unterstreicht und ich sie dann gleich richtig schreibe.“ – Wenn ich dann
noch einmal darauf eingehe, dass sie es nicht lernt, wenn sie bei jedem
unterstrichenen Wort einfach wild irgendeinen Verbesserungsvorschlag anklickt, sagt sie: „Andere Kinder machen gar keine Hausaufgaben. Oder schreiben alles ab. Und sind trotzdem gut im Test.“ Oder: „Ich kann das nicht besser. Dann mache ich das eben gar nicht.“
Darauf kann ich auf drei Arten reagieren: Entweder sie trösten. Dann diskutiert sie mit mir eine Stunde oder mehr, fängt irgendwann zu heulen
an, stellt alles in Frage, was sie bereits kann, findet alles und jeden
ungerecht und würde am liebsten auswandern. Oder, zweite Möglichkeit, ich kann sie aus der Sache rausziehen, erstmal etwas anderes machen, dann das Gespräch wieder auf das Thema lenken. Dann kann sie sich nicht mehr auf die Aufgaben konzentrieren und macht nur noch albernen Quatsch.
Sobald ich etwas nachdrücklicher auf das Thema zusteuere, fängt sie ebenfalls zu heulen an und will sich nicht erneut darauf einlassen. Dritte Möglichkeit: „Dann lässt du es.“ – Dann fängt sie gleich zu heulen an und wirft mir in einem unmöglichen Tonfall vor, gar kein Interesse an ihrer Zukunft zu haben. Wobei sie übersieht, dass der Vorschlag, das beiseite zu legen, gerade von ihr kam. Sie erwartet also,
dass ich ihr das ‚dann mache ich das eben gar nicht‘ nicht durchgehen lasse.
Ich sag nur: Pubertät. Irgendwann flitzt sie zu Marie, kuschelt sich auf ihren Schoß und plappert wie ein Wasserfall. Marie hört ihr zu, sagt
gar nichts, hört sich geduldig an, wie gemein ich bin. Und wie gemein der Rest der Welt ist. Manchmal dauert es nur fünf Minuten, manchmal fünfzehn, dann ist sie den ganzen Frust los, dann denkt sie eine Zeitlang nach, und dann sagt sie solche Dinge wie: „Und den größten Knall von allen habe ich. Wenn ich so darüber nachdenke, was ich hier die letzte Stunde abgezogen habe, möchte ich mich eigentlich bis morgen früh im Keller verstecken. Marie, hilfst du mir, mich bei Jule zu entschuldigen?“ – „Setz dich doch einfach bei ihr auf den Schoß und dann
erzählst du ihr das alles genauso, wie du es mir erzählt hast.“ – „Nee,
das ist ja peinlich. Außerdem ist sie sauer auf mich.“
Nee, ist sie nicht. Sie hat nur eine klare Haltung. Helena kommt dann
wieder zu mir, mag keinen Unfrieden, entschuldigt sich, obwohl sie sich
gar nicht zu entschuldigen bräuchte, bettelt darum, in den Arm genommen
werden, obwohl meine Arme die ganze Zeit offen sind. Sie kann Persönliches und Sachliches überhaupt nicht trennen. Sie verbindet „ist nicht richtig“ schnell mit „ich werde nicht gemocht“ oder „hat mich nicht mehr lieb“. Jede Wette, das ist eine Folge dessen, dass jemand ungewünschtes Verhalten konsequent mit Liebesentzug bestraft hat. Es ist
aber schon sehr viel besser geworden. Helena hat aber noch immer nicht verarbeitet, dass sie generell nicht (mehr) mit Liebesentzug bestraft wird. Sondern denkt noch immer situativ: In diesem Fall war es gerade nicht sooo schlimm. (Bei nächster Gelegenheit könnte es aber wieder anders sein.) Schwierige Zusatzaufgabe.
Andersrum geht das auch. Marie hat ihr neulich sagen müssen, dass sie
bei sich im Zimmer kein schmutziges Geschirr zu sammeln hat. Grundsätzlich essen wir gemeinsam, aber sie muss ja wegen der Zuckerkrankheit viele kleine Mahlzeiten einnehmen (statt weniger großer)
und hat dann manchmal eine Glasschale, in der Joghurt war, oder ähnliches, in ihrem Zimmer. Sowas steht dann mitunter nach Tagen noch da. Die Joghurtreste sprechen Helena bereits mit Namen an und haben die Haare schön. Dazu kommen dann ein paar Löffel, Gläser, Teebecher und ähnliches. Auf der Fensterbank, auf dem Schreibtisch, auf dem Nachtschrank. Unter der Bettdecke findet man irgendwann Unterwäsche, Leggings, Tops und Wollsocken zwischen Kuscheltieren, Körnerkissen und zwei kalten Wärmflaschen. Auf dem Fußboden davor liegt ein Handtuch, das
sie nach dem Duschen um ihre Haare gewickelt hatte, bevor sie irgendwann ins Bett gegangen ist.
Zu mir kommt sie dann mit: „Warum versteht Marie das nicht? Ich möchte nachts nicht nackt durch das kalte und dunkle Haus rennen, nur um
eine leere Teetasse wegzubringen. Und morgens muss ich sofort zur Schule, da kann ich nicht aufräumen.“ – Ohne dass ich etwas dazu sage, sagt sie nach ein paar Minuten kuscheln: „Ich bin ganz schön messi, oder? Als ich das mit dem Schimmel gesehen habe, hätte ich fast gekotzt.“ – Einen anderen Tag bezieht sie unaufgefordert selbst ihr Bett
neu, ist als Erste zu Hause und räumt den Geschirrspüler aus, neulich hat sie sich unaufgefordert einen Besen genommen und den Plastikmüll zusammengefegt, der bei dem Sturm aus einem geplatzten gelben Sack auf unser Grundstück geweht war. „Wie sieht das hier denn aus?!“ – Es klappen so viele Dinge so gut, und trotzdem: Manchmal braucht es sehr viel Geduld. Aber wir sind nach wie vor so verliebt in sie, dass wir diese Geduld sehr gerne aufbringen.