Am Pfingstwochenende müssen Marie und ich in diesem Jahr nicht arbeiten. Gar nicht. Alle Tage frei. Wahnsinn.
Nein, wir verreisen nicht. Wir bekommen auch keinen Besuch. Sondern wir chillen. Garten, Sonne, Handbike, Strand. Mehr bitte nicht.
Und Kontaktpflege. Und Bloggen. Und ausnahmsweise kann ich heute Kontaktpflege und Bloggen mal gleich miteinander verbinden: Ein langjähriger Freund erzählte mir heute am Telefon seine Story, die eigentlich exklusiv zu meinem Idiotenmagneten passen würde. Vielleicht müssen wir inzwischen darüber nachdenken, ob alle Menschen mit Behinderung einen solchen Magneten haben, denn auch dieser Freund sitzt im Rollstuhl. Vielleicht wird dadurch aber auch nur einmal mehr deutlich, wie in diesem Land mit Menschen mit Behinderung umgegangen wird.
Ich betone, dass nicht alle Menschen so sind. Ich betone aber auch, dass ich den „bedauerlichen Einzelfall“ nicht mehr hören, lesen oder glauben kann. Es ist kein bedauerlicher Einzelfall, dass die Deutsche Bahn schon wieder ein Problem hatte, Rollstuhlfahrer von Hamburg nach Berlin zu transportieren.
Gerade erst vor knapp zwei Wochen traf es die ehemalige Bahnradsportlerin Kristina Vogel, die seit einem Unfall querschnittgelähmt ist und im Rollstuhl fährt: Verschiedene Medien berichten, dass sie in Frankfurt aussteigen wollte, das jedoch nur mit der Hilfe anderer Reisender schaffte, die sie mitsamt Rollstuhl aus dem Zug hoben. Der Mitarbeiter mit der für das Aussteigen benötigten Rampe sei nicht am Zug gewesen, der Schaffner habe sich auch nicht gemeldet. Ich kenne das auch, in einem solchen Fall stelle ich mich dann immer in die Tür und halte den gesamten Zug auf. Irgendwann kommt immer jemand und schaut nach, warum die Tür nicht schließt.
Zwei Wochen davor hatte Bloggerin Wheelymum beschrieben, wie sie beinahe eine Reise nach Berlin absagen musste, weil man ihren Rollstuhl nicht aus dem Zug bekam. Am Ende reiste sie mit dem Flugzeug an.
Und in der letzten Woche? Da traf es vier junge Menschen aus Hamburg, die zu einem internationalen Wettkampf nach Berlin wollten. Zwei sitzen im Rollstuhl, zwei haben andere Einschränkungen; alle vier gehörten zu einem Landes-Auswahlteam, hatten sich für die Teilnahme an dem Wettkampf qualifiziert und über ein Jahr hart dafür trainiert. Für die Hin- und Rückfahrt waren die Fahrkarten schon vor Monaten gekauft und bezahlt, die beiden einzigen in dem ICE vorhandenen Plätze für Rollstuhlfahrer reserviert und die Einstiegshilfe vorbestellt. Wer mit einem Rollstuhl in den Zug möchte, braucht die Hilfe vom Personal, da eine Rampe bedient werden muss.
Am Morgen des Anreisetags stellte eine der Sportlerinnen dann zufällig fest, nachdem sie sich im Internet auf dem Weg zur Schule noch einmal vergewissert hat, ob alles klappen würde: Der betreffende Zug fährt heute ohne Wagen 9. Leider sind im Wagen 9 die beiden einzigen Rollstuhlplätze des Zuges. Und das einzige mit dem Rollstuhl befahrbare WC. Vielleicht übersteht der eine oder andere die zwei Stunden ohne WC. Dass der Zug liegen bleibt und die vier dann nicht auf die Toilette können, mag auch noch weit hergeholt sein. Aber: Die Deutsche Bahn lädt keinen Menschen im Rollstuhl in einen anderen Wagen ein, denn selbst wenn der Rollstuhl durch die schmaleren Eingangstüren hindurch passen würde, müsste derjenige ja die ganze Fahrt über auf dem Gang und damit im Fluchtweg stehen.
Die Beförderung von Menschen mit Behinderung wird bei der Deutschen Bahn durch den hauseigenen Mobilitätsservice koordiniert. Insbesondere diejenigen, die mit dem Rollstuhl reisen, müssen sich spätestens zwei Tage vor Reiseantritt dorthin wenden und darum bitten, eine Einstiegshilfe, also einen Mitarbeiter, der die Rampe bedient, zu bekommen. Nachdem der Wunsch aufgenommen wurde, senden die Mitarbeiter ihn an die jeweiligen Bahnhöfe, diese melden dann zurück, ob das benötigte Personal zur Verfügung steht. Und ob alle Aufzüge funktionieren. Anschließend erhält der Rollstuhlfahrer eine Bestätigungsmail oder einen Anruf. Bei kurzfristigen Änderungen sollen die betroffenen Personen eigentlich informiert werden.
Das ist in diesem Fall nicht geschehen. „Es ist Ihre Aufgabe, zu prüfen, ob der Zug wie vorgesehen fährt und sich gegebenenfalls bei uns zu melden“, sagte die Mitarbeiterin am Telefon. Service geht natürlich anders. In diesem Fall versuchte man nun, die vier Sportlerinnen und Sportler aus Hamburg in einen anderen Zug umzubuchen. Ein Zug später ging nicht, weil dann die Ankunft zum Wettkampf nicht mehr sichergestellt wäre. Ein Zug vorher ging nicht, weil der ebenfalls ohne Wagen 9 fuhr. In dem Zug davor waren die beiden Rollstuhlstellplätze bereits durch andere Rollstuhlfahrer belegt, in dem davor auch, in dem davor auch. Also blieb nur eine Umbuchung auf einen Zug, der sechs Stunden vor der eigentlichen Verbindung fahren würde.
Der Versuch, die Jugendlichen sofort aus ihren Schulen zu bekommen, scheiterte. Alle Handys waren natürlich aus. Das war aber auch nicht mehr relevant, denn wie sich bei einem weiteren Telefonat mit der Bahn herausstellte, würde auch diese Verbindung scheitern: In Berlin stünde für diesen Zug kein Personal zur Verfügung, das die Rampe bedienen könnte.
Somit lässt sich zusammenfassen: Nix Bahn. Es mussten kurzfristig Fahrzeuge und Fahrer organisiert werden, die die Sportler zu ihrem internationalen Wettkampf nach Berlin fahren. Das kleinste Problem dürfte dabei gewesen sein, dass die vier Erfrischungsgetränke verfallen sind, die die Bahn den vier Sportlern vor zwei Monaten spendiert hat (Verzehrgutschein), nachdem dort auch bereits alles drunter und drüber ging, und das Team für eine Strecke, die üblicherweise in 1:52 Stunden zurückgelegt wird, mal eben über fünf Stunden (Rückfahrt nur vier Stunden) benötigt hat. Damals auch, weil die barrierefreien Komponenten gar nicht oder zeitlich nicht passend verfügbar waren. Auf die schriftliche Beschwerde ihres Vereins hat sich bis heute niemand gemeldet. Zwar wurden 50% des Fahrpreises inzwischen automatisiert erstattet, aber auf die versprochene Aufarbeitung warten die Jungs und Mädels noch heute.
Nein, die Deutsche Bahn ist nicht entschuldigt. Auch wenn viele motivierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter engagiert alles versuchen, und auch wenn es unter den Menschen mit Behinderung durchaus auch nervige Zeitgenossen gibt: Es kann nicht sein, dass Menschen mit Behinderung in Deutschland nicht zuverlässig und gleichberechtigt mit der Deutschen Bahn fahren können. Es ist kein Einzelfall, wenn es den ganzen Tag lang effektiv nicht möglich ist, als Rollstuhlfahrer von Hamburg nach Berlin zu fahren. Und darüber diskutiere ich auch nicht.