Seit heute ist Helena wieder da. Am Mittwoch war sie mit ihrer Klasse nach Bayern gefahren. Auf Klassenfahrt. Zusammen mit einer Parallelklasse. Und vier Lehrkräften. Diejenige Lehrkraft, mit der wir vorher alles besprochen haben, war kurzfristig nicht dabei. Als ich Helena am Mittwoch zum Bahnhof brachte, hieß es, dass die eine Lehrerin „sich mit dem Fahrrad gemault“ hätte und mit Gipsarm nicht arbeitsfähig sei. Natürlich erfuhren wir das erst bei Abfahrt.
Ich will ja nicht immer nur meckern, zumal Helena die Klassenfahrt sehr gut gefallen hat. Andererseits finde ich aber auch, dass es nicht sein kann, dass Menschen mit Behinderung ständig Maxima an Toleranz, Geduld, Aufgeklärtheit, Milde, Wohlwollen, Freundlichkeit, Hinnahme und Opferbereitschaft abverlangt werden. Insbesondere, wenn dieser Mensch noch ein Kind oder eine Jugendliche ist.
Ich hätte nämlich schon wieder im Strahl kotzen können, als sich herausstellte, dass im Zug die Reservierungen in Verbindung mit dem Gruppenfahrschein so gebucht wurden, dass alle im selben Großraumwagen sitzen würden. Alle bis auf Helena. Sie sollte auf dem Rollstuhl-Stellplatz untergebracht werden. So hatte sie ihren Platz in Wagen 9, alle anderen in Wagen 3. Ich verstehe ja, dass ein Lehrer damit
überfordert ist, und ich verstehe auch, dass für Gruppenreservierungen bestimmte Platzkontingente vorgesehen sind. Ich verstehe auch, dass das schief geht, wenn das jemand noch nie gemacht hat. Ich verstehe aber nicht, dass die Lehrkraft mit mir im Austausch ist und das überhaupt nicht thematisiert. Also es vermutlich gar nicht auf dem Schirm hat.
Und ich schreibe das auch einer Überforderung zu, wenn dann der Lehrer auf meinen Einwand Helena fragt, ob es ihr was ausmache, alleine zu sitzen. Helena antwortete nicht, entsprechend habe ich dann höflich gesagt: „Ich glaube nicht, dass Helena das einfordern muss. Schon die Aussicht, mit dem Wunsch erhebliche Unruhe zu stiften, ist wohl keine gute Basis für diese Diskussion.“ – Der Kragen platzte mir aber dennoch nach seiner Antwort. Grinsend fragte er mich, und ich glaube, es sollte ein Spaß sein: „Also stiften Sie dann jetzt stellvertretend für Helena Unruhe?“
Ich antwortete schnippisch: „Das ist jetzt nicht Ihr Ernst?! Also ich
hoffe nicht, dass ich das muss.“ – Am Ende durfte Kiara bei ihr sitzen.
Am Nachmittag bekamen Marie und ich eine Kurznachricht: Sie habe sich durchsetzen müssen, nicht im Einzelzimmer untergebracht zu werden, während der Rest in Vierer- und Sechserzimmern pennt. Man hatte für sie ein barrierefreies Zimmer gebucht. Alleine. Die Lehrkraft meinte, an der
Zimmerbelegung sei nichts mehr zu ändern, woraufhin die Klassensprecherin der Nachbarklasse (!) die Leitung der Jugendherberge aufgesucht habe. Die machte das -im Gegensatz zu den Lehrern- wohl nicht
zum ersten Mal. Sie trat mit dem Angebot, die Zimmerbelegung kurzfristig zu ändern, an die Lehrer heran. Das Problem war: Der Rollstuhl durfte nicht in anderen Zimmern und nicht im Gang stehen. Damit im Evakuierungsfall niemand darüber fällt und damit ihn keiner klaut oder damit durch die Gänge heizt. Am Ende wurden einfach weitere Leute mit in das barrierefreie Zimmer gelegt. Was die Lehrer zuerst nicht wollten, weil das in einem anderen Flur lag als der Rest der Klassen. Ich nehme an, das war auch der Grund, warum das nicht gleich anders gebucht wurde. Ich sehe mich schon auf dem nächsten Elternabend noch einen Impulsvortrag über gleichberechtigte Teilhabe halten.
Ich dachte mir so: So weitläufig wird das Gebäude jawohl nicht sein, dass die Lehrer Wanderstiefel brauchen, um bei der abendlichen Kontrollrunde auch einmal in einen anderen Gang zu gehen. Von einem Mitschüler kam der Spruch, dass wegen „einer Behinderten wieder alles aufgemischt wird, nur weil sie nicht im Stehen pinkeln kann“, was Helena
mit „F*ck dich“ und ein weiterer Mitschüler mit „Spar die solche Sprüche, sonst pinkelst du die nächsten Tage gar nicht mehr“ kommentiert
hat. Anstatt sich zuerst den ersten Idioten zur Brust zu nehmen, wurden
der zweite Schüler wegen indirekter Gewaltandrohung und Helena wegen sexualisierter Sprache sanktioniert. Dass die Lehrer mit diesen zahlreichen nachbesserungsbedürftigen und halbherzigen Vorbereitungen die Gruppe spalten, muss wohl nochmal erklärt werden.
Ich glaube, mit Helena werden wir noch unseren Spaß haben. Sie sollte
schriftlich über eine Seite erklären, warum sexualisierte Sprache nicht
tolerierbar ist. Sie hat dann geantwortet, dass sie aufgrund ihrer Behinderung jede Schularbeit am Laptop anfertigen dürfe, ein solcher aber nicht vor Ort sei. Das ist zwar sehr frech, aber genau nach meinem Geschmack. Ich habe heute gelesen, was Helena und ihr „Gewalt androhender“ Mitschüler gemeinsam ausgearbeitet haben. Ich zitiere: „Die
Gesellschaft und jeder Einzelne [haben] das Recht, nicht mit sexualisierter Sprache belästigt zu werden. Das Recht möchte ich auch für mich. Wenn mein Recht nicht respektiert wird, darf ich mich aber wehren. Ein Subjekt, das selbst übergriffige Sprache benutzt, hat nicht mehr das Recht, weil [es] selbst bereits auf dieser Ebene ist und nicht fordern kann, dass ihm da niemand begegnet. Es kommt immer wieder vor, dass […] gegen mich mit Sprache übergriffig ist. Dagegen sollten die Lehrer auch etwas tun und nicht nur die bestrafen, die sich wehren!“
Es war aber nicht alles schlecht, sondern es sei überwiegend toll gewesen. Und die Mehrzahl der Mitschülerinnen und Mitschüler habe Helena
inzwischen akzeptiert und es herrscht wohl ein freundliches, respektvolles und angenehmes Klima untereinander. Helena erzählte mir von lediglich vier Ausnahmen, die aus einer provozierenden Minderheit heraus regelmäßig versucht hätten, um Helena herum Stunk zu machen. Einmal hätte man sich wohl zum Quatschen mit einem Dutzend Leuten in Helenas Zimmer getroffen, und in den ersten zwei Minuten hat einer der stets Provozierenden gefragt: „Warum bekommen die Behinderten eigentlich
immer die besten Zimmer?“ – Woraufhin derselbe, der auch schon wegen der angeblichen Gewaltandrohung sanktioniert worden war, geantwortet hat: „Warum haben die dümmsten Leute immer die größte Klappe?“ – Nachdem
Helena erzählte, dass er auch immer morgens ihr Frühstückstablett geholt hat, scheint ihm wohl ziemlich viel an Helena zu liegen. Was ich sehr schön finde.
Krass soll aber wohl auch der gemeinsame Freibadbesuch gewesen sein. Helena wurde im Vorfeld von einer Lehrkraft darauf hingewiesen, dass sie
sich zwar Badesachen anziehen und sich sonnen dürfe, aber nicht mit ins
Wasser gehe, weil das mit ihrer Behinderung zu gefährlich sei. Helena erzählte, dass sie danach erstmal geheult hätte, vor allem, weil sie sich bei dieser Entscheidung so sehr an ihre vorherigen Pflegeeltern und
unser Kennenlernen erinnert gefühlt hatte. Sie erzählte: „Aber dann habe ich gedacht, dass das ja ein guter Neuanfang war und bin erstmal so
mit ins Freibad.“ – Und am Ende war es dann doch super. Eine Traube von
Mitschülern habe sie ins Wasser geschubst. „Ob das vorher so abgesprochen war, sag ich nicht, man muss sich ja nicht selbst belasten“, erzählte sie lachend. Der Lehrer eskalierte am Rand, wäre fast hinterher gesprungen, Kiara hat aber derweil am Rand auf ihn eingeredet, dass sie mit Helena sogar in der Ostsee schwimmen geht. Ich frage mich, warum wir vorher besprechen, dass Helena schwimmen gehen darf. Sie kann schwimmen. Rücken. Brust. Und Kraul sieht auch schon gut aus. Punkt. Ende der Diskussion um Sicherheit und Verantwortung.
Eine weitere krasse Szene hat sich beim Besuch einer Veranstaltung ergeben. Das war so ein Dorffest oder ähnliches. Ein paar Mitschülerinnen haben sich irgendwelche Gummitiere gekauft. Vorher natürlich brav gefragt. Helena wollte sich eine Zuckerwatte kaufen. „Nee, Zucker ist ja nun schlecht bei Diabetes, das müsstest du doch aber
wissen.“ – Helena hat dann geantwortet: „Die spritze ich mir weg.“ – „Nein, also auf gar keinen Fall, blabla.“ – Darf ich eigentlich erwarten, dass ein Lehrer sich vor Abreise informiert und, wenn etwas passiert, wo er sich unsicher ist, sich vergewissert, ob das Kind das Griff hat? Er hätte mich auch anrufen können. Helena macht das über Tage
alles selbständig. Ist auf Reisen, bekommt fremdes Essen, am letzten Tag spielte die Pumpe verrückt, da hat sie sich mit Insulinpräparaten aus zwei Pens über Wasser gehalten. Selbständig. „Ich habe nur Kiara erzählt, was ich mache, der Lehrer hätte mich sonst bestimmt ins Krankenhaus gebracht. Hätte ich ihm zugetraut.“ – Da könnte sie Recht haben, denn der Lehrer rief mich am letzten Abend an, um zu fragen, ob sie ohne ärztliche Verordnung eine Ibu 200 nehmen darf, weil sie ihre Regel bekommen und Unterleibsschmerzen hat.
Ja, ich weiß, das ist speziell. Und ja, ich weiß, wer sich damit nicht auskennt, ist schnell überfordert. Aber der Erfolg lässt sich ganz
einfach am Blutzucker ablesen und dafür gibt es ein Messgerät. Solange der in dem vorgegebenen Rahmen ist, ist alles in Ordnung. Und das kann sich auch eine Lehrkraft mal eben unter vier Augen zeigen lassen und anschließend darauf vertrauen, dass die Schülerin alles richtig macht. Marie und ich haben mit Helena die Diabetes-Woche nachbesprochen, als sie damit anfing und uns erzählte, wie es gelaufen ist. Wir haben uns am
PC gemeinsam die gespeicherten Werte angesehen und ich fasse es zusammen: Es war alles in Ordnung. Ich hätte nichts anders gemacht. Und auch den ersatzweisen Einsatz der beiden Pens hat sie ohne Probleme gemeistert. Das ist etwa so, als wenn beim Flugzeug eins der beiden Triebwerke ausfällt. Man muss wissen, was zu tun ist. Aber es lässt sich
trotzdem alles beherrschen. Alles richtig gemacht. Ich bin so stolz auf
unsere „Große“.
Braun geworden ist sie in der einen Woche. Ohne Sonnenbrand. Viele tolle Fotos hat sie gemacht. Stundenlang erzählt. Zwei Drittel ihres Taschengelds für die Woche wieder mit nach Hause gebracht. Stichwort: Kaff. Regelmäßig geduscht, Zähne geputzt, Wäsche gewechselt, … was sie hier auch alleine und zuverlässig macht, was aber, nach ihren Schilderungen, bei anderen offenbar noch nicht überall so selbstverständlich ist. Und was mich nochmal mehr in meiner Annahme von einem pflegeleichten Pflegekind bestärkt.