Endlich Ferien

Vor einem halben Jahr war es schon ein kleines Drama. Der letzte Zeugnisausgabetag
war für Helena sehr aufwühlend, obwohl Marie und ich nie Druck gemacht hatten. Nachgewirkt hatte offenbar das unmögliche Verhalten der früheren
Pflegeeltern, die offenbar ihre Ziele ausschließlich durch Bestrafung ereichen wollten. Das ist so sehr eingebrannt, dass Helena auch an diesem Morgen völlig in sich gekehrt am Frühstückstisch saß. Inzwischen konnten wir es ja bereits einordnen. Allerdings gefiel es mir nicht, denn die Stimmung wird nicht heute morgen, sondern schon viel früher umgeschlagen sein.

Ich muss sagen, dass ich mir früher nie großartige Gedanken darüber gemacht habe, wie ich wohl eines Tages ein Kind begleiten könnte. Die Kinder und Jugendlichen, die jünger als ich waren und mit denen ich bis dahin zu tun hatte, habe ich immer nur ernst genommen und mit Respekt behandelt. Das fand ich schon damals wichtig. Heute hat sich daran nichts geändert. Hinzu gekommen ist, dass ich glaube, dass Kindern und Jugendlichen klare Positionen und klare Grenzen brauchen. Und zwar auch als Feedback zu ihrem Verhalten und ihren Ideen. Aber auch das ändert nichts am Ernst nehmen und Respekt aufbringen.

Was gar nicht geht, ist Angst. Kinder, die nicht mehr lachen, sondern
beten und Gott bitten, etwas besser zu machen. Die sich nicht mehr trauen, Fehler zu machen oder eigene Wege zu gehen, die sich später als unglücklich oder ungünstig herausstellen. An der Anzahl der Wörter, die sie morgens sprach, an dem fehlenden Blickkontakt und an der innerlichen
Anspannung merkte ich, wie sehr sie unter Strom stand. Ich bat ihr meinen Schoß an. Sie kam dieses Mal sofort, setzte sich, umarmte mich, und fing zu weinen an. „Mach dir nicht solchen Stress, Helena. Ein Zeugnis entscheidet nicht darüber, wie sehr du gemocht und geliebt wirst. Es entscheidet nur darüber, ob du vielleicht künftig in einem Fach Unterstützung brauchst, um die als ‚wichtig‘ definierten Inhalte zu
verstehen. Hast du vor irgendeiner Sache besondere Angst oder ist es nur dieser offizielle Anlass, der dich so unter Druck setzt?“

„Es sind die Erinnerungen. Immer, wenn ich daran denke, dass ich ein Zeugnis bekomme, denke ich automatisch daran, wie schlimm diese Tage früher waren.“ – „Kannst du diesen Tag heute als Indikator sehen, was sich in deinem Leben im letzten Jahr verändert hat?“ – „Ich muss automatisch immer wieder daran denken, was gewesen ist, und dann möchte ich mir am liebsten Augen und Ohren zuhalten und mich irgendwo verstecken.“ – „Möchtest du zu Hause bleiben und wir fahren später gemeinsam zur Schule und holen dein Zeugnis aus dem Sekretariat ab?“ – „Nee, bloß nicht. Ich muss da jetzt durch. Herr [Therapeut] sagt, wenn das kalte Wasser irgendwie auszuhalten ist, ist es am besten, einmal die
Zähne zusammen zu beißen. Immer schauen, wie ich notfalls schnell raus komme. Aber sonst die Chance nutzen, sich daran zu gewöhnen, die Angst abzustreifen und mit gutem Gefühl wieder rauszuklettern. Und das mache ich jetzt und höre auf zu heulen, sonst fragt mich jeder, warum ich mit so einem Matschgesicht zur Schule komme“, sagte sie und kletterte von meinem Schoß.

Als sie mittags nach Hause kam, legte sie sofort ihr Zeugnis auf den Tisch. Da ich wusste, wie sehr sie unter Strom stand, sah ich es mir sofort an. Deutsch 3, Mathematik 2, Englisch 4, Biologie 2, Physik 2, Geschichte 1, Geographie 3, Religion 2, Kunst 3, Musik 2, Sport 1, Spanisch 2. Noten auf der gymnasialen Anforderungsebene. Also, bis auf Religion, alles wie im Halbjahr zuvor. Auch die Beurteilung des Lern- und Sozialverhaltens war dieselbe. Aber: „Versäumnisse 12 Stunden, davon
unentschuldigt: 0 Stunden. Verspätungen: 0“.

Im letzten Jahr waren es zehn unentschuldigte Fehlstunden, weil sie zwei Mal geschwänzt hatte, ohne uns davon zu erzählen. Die entschuldigten Stunden waren jetzt kränk und Jugendamt. Marie sprach sie
drauf an: „Wie jetzt … gar nicht blau gemacht dieses Halbjahr?“ – „Nö.“
– „Wie kommt’s?“ – „Naja, wenn ich zwei Tage schwänzen darf, ist der Druck ja weg. Außerdem brauchte ich den Eintrag im Zeugnis, um von meinen schlechten Noten abzulenken. Aber da irgendwie keiner meine Noten
schlecht findet, muss ich von denen auch nicht ablenken. Klingt unlogisch, oder?“ – „Ja, weil du keine schlechten Noten hast, von denen du ablenken müsstest.“ – „Ich hätte mich über eine 3 in Englisch gefreut. Nach 5, 3, 3 und 3 hätte das eigentlich drin sein können.“ – „Helena, eine Vier ist ausreichend. Alles darüber ist schön.“ – „Ich möchte da aber eine 3.“ – „Nächstes Halbjahr gibst du nochmal Gas, und dann klappt das schon.“ – „Wenn da jetzt eine Fünf gestanden hätte, welche Folgen hätte das für mich gehabt?“ – „Hm. Gutschein über Nachhilfe? Keine Ahnung. Was hättest du dir dann gewünscht?“ – „Das ihr mich trotzdem lieb habt.“

Es. Geht. Einfach. Nicht. Aus. Ihr. Raus. Noch nicht. Aber erstmal: Endlich Ferien.

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