Es war schon lange geplant, und ich habe lange darauf trainiert und
mich vorbereitet. Nicht professionell trainiert, sowas mit zehn Einheiten pro Woche; aber schon etwas mehr als freizeitsportlich. Also mit Trainingsplan und bei jedem Wetter, drei bis vier Mal pro Woche. Ich
wollte an diesem Wochenende endlich mal wieder an einem Triathlon teilnehmen. Marie hat mich zwar hin und wieder beim Training begleitet, aber da an diesem Wochenende eine gute Freundin von ihr heiratet, war klar, dass sie nicht dabei sein würde. Helena hatte sich für dieses Wochenende mit Kiara bei einem Reit-Camp angemeldet: Also alle ausgeflogen.
Am letzten Montag, also nicht mal mehr eine Woche vor der Veranstaltung, bekam ich einen Anruf aus dem Organisationsbüro, dass ich
leider nicht teilnehmen könnte. Grund: Ein Spinner. Ein richtig ekliger
Spinner. Eklig, weil Menschen bei Kontakt mit seiner Raupe heftig reagieren. Nein, nicht die Raupen, deren Bilder mir einige Spinner gerne
ungefragt schicken. Die Rede ist vom Eichenprozessionsspinner, dessen Gespinste der Veranstalter zwischen Ausstieg aus dem Wasser und der ersten Wechselstation entdeckt hat, so dass er einen anderen Weg für die
Läufer wählen musste. Dieser andere Weg sei aber so steil, dass er für Rollstuhlfahrer untauglich sei.
Tatsächlich gibt es zu diesem See nur einen Zugang und ich kann diese
Entscheidung durchaus nachvollziehen. Auch wenn es mich ärgert, dass es
keine Lösung gibt. Mit Blick darauf, dass tausende Menschen meine Beiträge lesen und teilen, erwähne ich vorsorglich, dass es sich nicht um den an diesem Wochenende ebenfalls stattfindenden Ironman in Hamburg gehandelt hat.
Als ich am Montagabend zum Schwimmtraining fuhr, war da, wie fast immer, auch Christin. So nenne ich sie mal. 22 Jahre alt, studiert Sonderpädagogik, etwa 165 cm groß, dunkelbraune, schulterlange Haare, braune Augen, schlanke, fast schon zierliche Figur, die Oberarme und Schultern allerdings sportlich-muskulös, meistens mit Brille anzutreffen. Sie hat bei der Auswahl ihrer Kleidung, auch der Badebekleidung, einen sehr guten Geschmack, trägt häufig sehr hübsche Sachen, die ich auch gerne mal finden würde, wenn ich auf Klamottensuche
bin. Sie ist ein auffallend fröhlicher und selbstbewusster Mensch, ich erlebe sie häufig lachend und oft zu Scherzen aufgelegt. Mir war schon mehrmals aufgefallen, dass sie mich gerne neckt. Zum Beispiel, indem sie
beim Training meine Wasserflasche, die eigentlich am Rand steht, schwimmen lässt. Oder meine Paddles. Neulich, als ich eine Trennleine ziehen wollte und mit dem einen Ende durch das Becken schwamm, hat sie sie regelmäßig festgehalten oder mich zurückgezogen. Immer, wenn ich mich umdrehte, guckte sie natürlich in eine andere Richtung und verhielt
sich absolut unbeteiligt und unschuldig. Sie hat es also faustdick hinter den Ohren, aber auf eine sehr erfrischende Art und Weise.
Neulich hat sie mir eine gelbe Quietsche-Ente geschenkt. Hat sie, während ich schon im Wasser war, einfach auf die Sitzfläche meines Rollstuhls gestellt. Aber ohne irgendwas zu sagen. Wenn ich in die Halle
möchte, muss ich durch eine Glastür. Nur so ist der barrierefreie Zugang möglich. Irgendwer muss die aber von innen öffnen, da von außen nur ein Knauf dran ist. Damit keine kleinen Kinder ungefragt über den Nebeneingang in die Halle kommen und ins Wasser plumpsen. Oft öffnet mir
Christin, allerdings niemals ohne irgendwelche Blödeleien. Manchmal stellt sie sich erstmal vor die Tür und winkt mir zu, als wüsste sie nicht, dass ich hinein möchte. Oder ähnliches. Wir haben einigen Spaß miteinander. So gehe ich oft auf den Unsinn ein, der sehr häufig auch meine Behinderung thematisiert. Neulich öffnete sie die Tür einen Spalt und fragte: „Ja bitte? Wie kann ich Ihnen helfen?“ – „Guten Tag, ich bin
die Jule, bin 26 Jahre alt und möchte gerne Schwimmen lernen. Hätten Sie noch einen Platz für mich frei?“ – „Da muss ich mal unseren Trainer fragen, aber ich glaube nicht, dass wir hier Behinderte nehmen. Können Sie morgen nochmal wiederkommen?“ – „Morgen kriege ich keinen Ausgang. Kann ich vielleicht selbst mal mit dem Trainer reden?“ – „Grundsätzlich gerne, aber leider klemmt die Tür.“
Und so weiter. Am Montag nun sprach Christin mich auf den am Wochenende bevorstehenden Triathlon an. „Wann geht’s los?“, fragte sie. „Gar nicht“, antwortete ich. Sie guckte mich erstaunt an: „Wie jetzt, in
letzter Sekunde anders überlegt?“ – „Nö. Da spinnt ein Spinner in einer
Prozession an einer Eiche, deshalb mussten sie die Strecke ändern, und die neue Strecke ist leider nicht mehr mit dem Rollstuhl zu befahren.“ –
„Och nö. Echt jetzt?“ – „Ja. Die haben mir heute abgesagt. Meldegeld gibt es zurück, sie hoffen, dass die Viecher nächstes Jahr rechtzeitig abgesaugt wurden.“ – „Na toll. Aber dann kommst du einfach mit mir! Ich fahre am Wochenende zu einem Wettkampf und ich bin mir sicher, wir würden dich da auch noch angemeldet bekommen.“ – „Schwimmen?“ – „Ja, im See. Ich bin für zehn Kilometer angemeldet, aber ich schätze, sie haben auch was für Anfänger im Programm.“ – „Haha. Du bist doof.“ – „Ja, ernsthaft, für Schüler bestimmt 1000 Meter oder so.“ – „Und dann schwimme ich da als einzige Erwachsene zwischen den ganzen Kindern oder was?“ – „Na klar, also bei mir würdest du auf Anhieb manchmal auch als Neunjährige durchgehen.“ – „Ich hab dich auch lieb.“ – „Okay, Zehnjährige. Wenn du kein Mitleid haben willst, musst du wohl 5.000 schwimmen. Das schaffst du. Das ist wie etwas längeres Training.“ – „Im Training schwimme ich maximal drei. Und das ist in einer Halle ohne Wind
und Wellen.“ – „Du trainierst auch in der Ostsee mit Wind und Wellen, und wer drei schafft, schafft auch zehn, und du meldest nur fünf. Also kein Problem.“ – „Wenn du das sagst…“ – „Also ist das schonmal gebont. Dann hab ich ja auch schon eine Mitfahrgelegenheit. Cool. Müssen wir nur
noch klären, ob du bei mir im Zelt pennen willst oder edel ins Hotel gehst. Ich könnte mir ein Vier-Personen-Zelt von meinen Eltern ausleihen, einen Platz für mich und drei für dich.“ – „Ich habe nicht gesagt, dass ich mitfahre.“ – „Nee, aber ich. Nun komm schon, dein Wettkampf ist am Sonntag, du kannst dir meinen am Samstag in aller Ruhe anschauen, dich vorbereiten, mich vielleicht mal anfeuern. Und ich versuche, dich mit dem Kajak zu begleiten. Vielleicht bekommen wir das geregelt.“ – „Da war doch sicherlich schon lange Meldeschluss.“ – „Nachmeldungen kosten 25 Euro extra. Ich kümmere mich darum. Und du denkst positiv. Okay?“ – „Ich denke darüber nach und sage dir nach dem Training Bescheid.“
Nach dem Training war Christin plötzlich verschwunden. Ich schaute mich in der Halle um, irgendwann fragte ich jemanden: Sie sei schon gegangen. Also hatte sie es sich vielleicht wieder überlegt? Zu spontane
Ideen gehabt? Ich zog mich um und als ich aus der Halle rollte, stand sie dort. Ich rollte zu ihr. „Und?“ – „Ich komme mit.“ – „Super“, strahlte sie und fiel mir um den Hals. Ich hatte vorher noch gar nicht wahrgenommen, dass ihr das sooo wichtig war. „Dann rufe ich für dich jetzt einen Kumpel an, der im Orgateam ist, und versuche, ihm das zu erklären. Weil die Veranstaltung so nicht inklusiv ausgeschrieben ist.“ –
„Aber wenn es beginnt, umständlich zu werden, lassen wir das.“ – „Ich rufe dort erstmal an. Also die 5 Kilometer, ja?“ – Ich nickte, wenngleich ich unsicher war, worauf ich mich da einlassen würde. Sie scrollte durch ihre Kontakte und wählte eine Nummer. Und fing dann an, in einer anderen Sprache mit ihm zu sprechen. Auch wenn ich diese Sprache nicht konnte, verstand ich viele Worte. Ich mag den für mich lustigen Klang dieser Sprache und wusste bis eben noch nicht einmal, dass sie diese Sprache fließend sprechen kann. „Alles klar, sie nehmen dich noch mit rein.“ – „Super. Aber wieso sprichst du diese Sprache fließend?“ – „Mein Vater kommt von dort und ich bin zweisprachig aufgewachsen.“
Cliffhanger – Fortsetzung folgt!