Ich hörte sie schon in der Nachbarstraße laut krähen. Nein, unser Nachbar hat sich glücklicherweise keinen Hahn gekauft. Ich meine Helena.
Und Kiara. Sie hatten Spaß. Gackerten über irgendetwas. Spielten irgendeine Situation nach und hatten einen Lachflash. Sie sollte zum Abendessen zu Hause sein. Und brachte Kiara noch mit. Kiara ist pflegeleicht, hat schon öfter bei uns übernachtet. Allerdings nicht unter der Woche, wenn Schule ist.
Je näher die beiden kamen, umso ruhiger wurden sie. Sie waren beim Reiten. Es dauerte noch einen Moment, dann klingelte es an der Tür. Warum kamen die beiden nicht rein? Brauchten sie Hilfe beim Stiefel ausziehen? Ich rollte zur Tür, öffnete. Draußen standen zwei pitschnasse
Mädchen und guckten mich mit großen Augen etwas verunsichert an. Helena
hatte ihren Rollstuhl vor sich hergeschoben und fragte keck: „Na?!“
„Was ist denn bei euch los?“, fragte ich. Gummistiefel, Reithose, Sweatshirt, Weste, Haare, alles triefnass und voller Matsch und Sand. Die beiden sahen aus wie die Erdferkel. Helena antwortete frech: „Wir waren schwimmen. Im Meer. War schön. Schöne Wellen, noch schön warm das Wasser.“ – „Mit den Pferden?“ – „Mit unseren nicht. Aber [fünf andere Mädchen im Alter von 14 bis 17 vom Reitstall] haben uns gefragt, ob wir mitkommen und dann haben sie uns auf [ihren Pferden] mitgenommen. Wir mussten aber weiter [an den Strand im Nachbarort], weil hier bei uns ja Pferde erst ab 1. Oktober wieder an den Strand dürfen. Aber [die Mutter von zwei anderen Mädchen, die dort selbst ein Pferd hat] wusste Bescheid, wo wir sind.“
Bevor ich irgendwas antworten konnte, fragte Helena: „Kann Kiara heute nacht bei mir schlafen?“ – „Mitten in der Woche? Eigentlich nicht.“ – „Jule, wenn ihre Mama sie so sieht, bekommt sie Ärger. Können wir nicht ihre Sachen mitwaschen?“ – „Och Helena, sie braucht doch morgen früh ihre Schulsachen und Klamotten zum Wechseln hat sie doch auch keine.“ – „Für heute Nacht kriegt sie was von mir und morgen früh zieht sie sich Leggings an und geht vor der Schule bei sich rum. Wir haben erst zur dritten Stunde. Bitte.“ – „Weil ihr morgen zur dritten Stunde habt. Aber ich möchte ein Okay von deiner Mutter aufs Handy bekommen. Und meinst du nicht, dass deine Mutter merkt, wenn die Sachen frisch gewaschen sind? Und dass es besser wäre, wenn sie das weiß?“ – „Eltern müssen nicht alles wissen“, sagte Kiara. Helena grinste.
„Ab in den Garten unter die Dusche! So voller Sand kommt ihr mir nicht ins Haus. Außen rum! Und dann ab in die heiße Badewanne. Und Haare
waschen.“ – Die beiden fassten sich an die Hände und hampelten in den Garten. Ich holte große Handtücher aus dem Bad. Als ich wiederkam, versuchten die beiden schon, sich gegenseitig den Gartenschlauch aus der
Hand zu nehmen. Die halbe Terrasse war nass. Helena pupste laut, sagte „Oh“ und beide bekamen erneut einen Lachflash. Meine Güte, sind die albern! Und so gut gelaunt.
„Spült bitte den ganzen Sand ab und dann hier die nassen Sachen ausziehen und direkt ab in die Badewanne.“ – Eine Stunde später hatten Marie und ich zwei nach Badeschaum duftende Teenies mit Handtuch auf dem
Kopf am Tisch sitzen. „Wenn dir das nicht zu viel wird, kann Kiara bei euch schlafen“, ließ mich die Mutter per Kurznachricht wissen. Als wir mit dem Essen fertig waren, verschwanden die beiden in Helenas Zimmer. Weil sie die Tür noch nicht ganz geschlossen hatten, konnte ich den ersten Satz gut hören: „Siehste, ich hab dir gesagt, ich kriege keinen Ärger.“
Nee. Auch wenn das pädagogisch vielleicht jetzt nicht ganz so sinnvoll ist, solchen Mist wie „ohne Handtuch in der Ostsee schwimmen gehen“ und dann „nass durch den halben Ort laufen“ unkommentiert zu lassen, freue ich mich in erster Linie darüber, dass Helena dazugehört. Denn viele Kinder mit Behinderung gehören nicht dazu, wenn die anderen Blödsinn bauen.