So schnell wollte ich eigentlich an keinem Wettkampf teilnehmen, denn meine Schleimbeutel-Entzündung ist erst relativ kurzzeitig wieder abgeheilt. Die Gefahr, dass sich das sofort wieder entzündet, bestünde laut meiner Hausärztin zwar eher nicht, aber meinen Trainingszustand würde ich wegen der Zwangspause eher als suboptimal bezeichnen.
Bei Tatjana weiß man nie so genau, was sie im Schilde führt, wenn sie einen in tolle Pläne einweiht. Sie versteht es, Leuten Honig um den Mund zu schmieren. Mitten in der Woche fragte sie Cathleen, Marie und mich, ob wir Lisa, Anja und ein weiteres junges Mädel aus Schleswig-Holstein am Wochenende bei einem Wettkampf in Hessen supporten könnten. Soll heißen: Cathleen, Marie und ich starten außer Konkurrenz in einer unpassenden Alters- oder Startklasse, um fehlende Konkurrenz oder fehlende Erfahrung (bei ganz jungen Sportlern, die zum ersten oder zweiten Mal starten) auszugleichen. So etwas gibt es nur bei ausgewählten Wettkämpfen im Behindertensport, meistens jene Nachwuchsrennen, zu denen nicht genügend Leute melden.
Es handelte sich um einen Wettkampf, bestehend aus 750 Meter Schwimmen, 5 Kilometern Sprint im Rennrolli und 20 Kilometern Handbiken im Rennbike (so genannte Sprintdistanz). Cathleen, Marie und ich sagten zu, sehr zur Freude der drei jungen Mädels. Die Schleswig-Holsteinerin kannte ich locker von einem gemeinsamen Trainingslager – deren Mutter rief mich am Mittwochabend prompt an und wollte von mir hören, ob ich glaube, dass alles klappen wird. Ihre Tochter habe noch keine Erfahrungen mit Alkohol oder Jungs und sei auch nicht verdorben … sie wäre froh, wenn das so bliebe. Ich konnte sie etwas beruhigen.
Und so standen wir am Samstagnachmittag mit sechs Rollstühlen auf dem Hamburger Hauptbahnhof und warteten auf den ICE. Unsere Rennbikes und unsere Rennrollis waren bei Tatjana im Bus, damit war aber kein Platz mehr für irgendeinen Mitfahrer. Das erwartete Theater bei der Bahn („Was?! Mit sechs Rollis? Da passen nur zwei rein!“) blieb gänzlich aus und bevor wir überlegen konnten, ob uns langweilig wird, waren wir auch schon da. Mit einer Straßenbahn ging es zu einem Vier-Sterne-Hotel, das vom Veranstalter als Unterkunft ausgesucht worden war und von dem ich verwöhnte Göre eigentlich etwas mehr Luxus erwartet hätte.
Aber bei vier Sternen kann man schließlich nicht zu viel erwarten und so waren von den acht Halogenspots in der Zimmerdecke sechs defekt, die Gardine hing in Fetzen vor dem Fenster (das war vermutlich die Hotelkatze), die Dusche war völlig verkalkt, ein Bettbezug war schmutzig, der Teppichboden voller Flecken und der Fernseher ging auch nicht. An der Rezeption zeigte man sich entsetzt, meinte dann aber, dass sie völlig ausgebucht seien und man kein anderes Zimmer für uns hätte. Ich bin ja sonst nicht so zickig, aber eins konnte ich mir dennoch nicht
verkneifen: „Ein sauberer Bettbezug würde schon reichen. Wenn es zu viele Umstände macht, ziehe ich ihn auch selbst auf.“
Eine der Rezeptionsdamen kam mit ins Zimmer und bezog meine Decke neu. Am nächsten Morgen stellten wir dann fest, dass in der Dusche auch nicht in Ordnung war: Was nicht direkt an den Fliesen entlang lief, spritzte unkontrolliert in alle Himmelsrichtungen. Ich dachte erst, Cathleen und ich hätten das Zimmer bekommen, was sonst die Gäste bekommen, die man rausekeln möchte, aber die anderen drei Zimmer der Hamburger Leute waren genauso unmöglich. Beim Frühstück mussten wir sechs Mal um ein Kännchen kalte Milch bitten und fast eine Viertelstunde auf frische Brötchen warten (nehmen Sie doch solange etwas Obst), und als man sich dann bei der Gesamtrechnung noch um über 100 Euro zu unseren Ungunsten verrechnet hatte, platzte Tatjana so richtig der Kragen. Ich habe sie lange nicht mehr so weit oben auf der Palme erlebt.
Die Dame hinter dem Tresen war gut geschult und konnte auf jeden Satz, den Tatjana sagte, mit irgendeiner Floskel rausgeben.
Ich sollte mich um Lisa kümmern, Marie um Anja und Cathleen um das Mädel aus Schleswig-Holstein. Lisa ließ mal wieder einen Spruch nach dem nächsten vom Stapel, leider bekomme ich sie nicht mehr alle zusammen. Fest steht nur: Ich könnte sie noch immer alle fünf Minuten knuddeln.
Irgendwann gab es eine offizielle Ansprache. Das Wasser hätte mindestens die erforderlichen 19 Grad. Ob Celsius oder Fahrenheit, ließ man mal offen. Tatjana füllte uns mit Getränken ab, um eine möglichst ideale Hydrierung zu erreichen. Eine Dreiviertelstunde vor dem Start rollte ich zum sechsten letzten Mal an diesem Morgen zum Klo, zog
anschließend meine Wettkampfklamotten an, ließ mir von Tatjana beim Neo helfen und als fünf Minuten später Lisa auch fertig angezogen war, düste ich mit ihr schonmal zum Steg runter. Eine halbe Stunde vor dem Start sollte man sich dort melden. Auf dem Steg hatten sie Rasenteppich ausgerollt, auf dem es sich besonders schlecht rollte.
Üblicherweise darf man, nachdem man sich gemeldet hat, bis zehn Minuten vor dem Start sich in der Nähe hin und her bewegen und sich weiter warm halten, aber hier war das nicht möglich. Es gab nur einen sehr engen Zuweg zu diesem Steg, der auch nur von den Paratriathleten genutzt wurde. Die Fußgänger starteten vom Strand aus.
Marie und Anja sowie Cathleen und die Schleswig-Holsteinerin kamen kurz nach uns. Es begann zu nieseln. Tatjana kam auf den Steg und machte mit uns noch einige weitere Aufwärmübungen, zehn Minuten vor dem Start musste sie jedoch den Steg verlassen, so dass nur noch die sechs Hamburgerinnen und zwei Teilnehmerinnen aus Hessen und drei Offizielle dort standen und warteten. Wir versuchten, uns durch Arm- und Rumpfbewegungen halbwegs warm zu halten. Das Mädel aus Schleswig-Holstein wurde immer nervöser. Cathleen versuchte, sie zu beruhigen. „Wenn du erstmal im Wasser bist und die ersten 100 Meter geschwommen hast, legt sich auch die Aufregung. Ich bleibe immer bei dir, wir schaffen das zusammen. Bei meinem ersten Wettkampf war ich auch
ziemlich aufgeregt. Das ist aber nur vor dem Start, das ist gleich vorbei.“
Lisa, die sonst oft nur unfreiwillig lustig ist, ließ jetzt den von ihr zum Frühstück vertilgten Clown aufstoßen und erzählte laut mit einem schelmischen Grinsen: „Übrigens, falls es jemanden interessiert: Ich mach grad Pipi.“ – Anja erwiderte mit entsetztem Blick: „Das ist nicht dein Ernst.“ – Lisa antwortete: „Doch, ich darf das! Wir sind hier auf einem Wettkampf, da gelten andere Regeln!“ Cathleen, Marie und ich krümmten uns vor Lachen. Anja guckte uns entsetzt an. Ich sagte: „Wo sie recht hat, hat sie recht!“
Anja antwortete: „Ja ich glaub dir das, aber darüber redet man doch nicht.“ – Cathleen erwiderte: „Beim Triathlon ist alles anders. Und beim Paratriathlon sowieso. Da redet man über alles, was unwichtig ist und morgen schreibt Jule das in ihren Blog und spaltet dadurch ihre Leserschaft in die, die schmunzeln, die, die es eklig finden und die Fetischisten.“
Lisa fragte: „Was ist eine Leserschaft? Und was sind diese Feti-Dinger?“ – Marie sagte: „Als ‚Leserschaft‘ bezeichnet man alle Leserinnen und Leser eines bestimmten Buches oder einer bestimmten Zeitung oder auch eines Internetblogs und Fetischismus ist in diesem Fall, wenn einer davon Pipi toll findet. Davon hat Jule unfreiwillig ein paar Leute in ihrer Leserschaft.“ – Lisa antwortete: „Ok. Dann bin ich jetzt auch so ein Feti-schissi-mus-duweißtschon. Diese Leute da.“ – Cathleen, die sich gerade die letzten Lachtränen aus den Augen gewischt hat, fing erneut an zu gackern und fragte: „Wieso? Findest du auch Pipi toll?“ – Lisa antwortete ohne eine Miene zu verziehen: „Zumindest ist es gerade schön warm am Po.“
Marie, Cathleen und ich kugelten uns auf dem Steg, die Wettkampfrichter müssen gedacht haben, wir haben nicht mehr alle Tassen im Schrank. Anja lächelte verlegen und die beiden Hessinnen sagten: „Na ihr seid ja gut drauf.“ – Dann wurden wir aufgefordert, an die Stegkante zu rutschen und Sekunden später ging es los. Es war arschkalt. Von wegen 19 Grad. Ich schwamm neben Lisa, die ein recht ordentliches Tempo vorlegte. Ständig kamen mir ihre Worte vom Steg wieder in den Kopf und ich musste den Gedanken zur Seite schieben, um nicht beim Schwimmen das Lachen anzufangen und mich zu verschlucken. Bei einem Wettkampf für mich wäre so etwas absolut hinderlich gewesen. Ich hoffe, ich habe es bis zum nächsten Mal wieder vergessen.
Der Rest des Wettkampfes verlief unspektakulär, allerdings wurde der Regen stärker, so dass wir bereits nach dem Rennrolli fahren aussahen als hätten wir ein Schlammbad genommen. Bei Regen macht so ein Wettkampf
entsprechend weniger Spaß. Ich fuhr außer Konkurrenz vier Sekunden nach Lisa über die Ziellinie und dann kam der Hammer: Auf Lisas Weg zur Dusche gesellte sich plötzlich eine Frau, etwa Mitte 40, zu ihr, hielt ihr einen Ausweis unter die Nase und sagte: „Guten Tag, mein Name ist Dr. …, ich bin Ärztin und bin heute im Auftrag des Deutschen Behinderten-Sportverbandes hier. Sie sind für eine Anti-Doping-Kontrolle
vorgesehen.“
Hurra. Was folgte, waren nervige 150 (!) Minuten umringt von zwei Frauen, die alles genau beobachteten. Man darf eine Vertrauensperson / Zeugen mitnehmen, Lisa suchte sich spontan mich aus. Und dann nahm das Drama seinen Lauf. Zuerst hatte sie nicht genug in der Blase, dann musste sie trinken, trinken, trinken, dann war ihr Urin zu dünn (unter 1.005 g/ml), dann sollte sie erstmal duschen gehen, dann musste sie beim
Duschen plötzlich nochmal dringend, dann bekam sie dort einen neuen Becher von der Assistentin, den hat die Ärztin dann aber später verworfen, weil sie meinte, da könnten Seifenreste reingekommen sein, das sei nur in Lisas Interesse, noch einmal neu abzugeben und dann beim nächsten Versuch klappte es endlich. Dann mussten noch etliche Codenummern übertragen und verglichen werden, Ausweise abgeschrieben werden, alles umgefüllt und verschlossen werden, erst in Gläser, dann in Tüten, dann in Styroporkartons, ein Protokoll mit mindestens 25 einzelnen Punkten angefertigt werden und dann endlich war Lisa, völlig eingeschüchtert, wieder entlassen.
Der Tag endete damit, dass der Zug auf dem Rückweg wegen eines Polizeieinsatzes in Hannover eine Verspätung von 75 Minuten aufbaute. Als ich endlich zu Hause war, war es halb ein Uhr nachts. Ich glaube, ich bin innerhalb von 3 Minuten eingeschlafen.