Opfer-Kastanie und Splitter-Patient

„Liegt ein Mann in der Notaufnahme.“ – So könnte ein Witz beginnen. Aber wer erzählt ihn mir?

Wie langweilig wäre doch mein Studentenleben ohne den wöchentlichen praktischen Tag. Im Moment in der Chirurgie und heute nochmal aushilfsweise in der Notaufnahme. Fachkräfte werden eben gebraucht… Aktuell dabei: Schülerpraktikant Nick. Soziales Pflichtpraktikum. Nick ist 14 und dauernd auf Sendung. Genauer gesagt: Er muss alles kommentieren und brabbelt dafür in jeden Satz, selbst dann, wenn er gar nicht für ihn bestimmt ist.

„In der Vier liegt ein Mann um die 60 mit einem Splitter im linken Fuß. Jule, das können Sie alleine.“ – Nick: „Splitter im Fuß? Hat er da DSL drauf?“ – „Nein, hat er nicht, es ist ein Holzsplitter. Und falls Tetanus nicht mehr aktuell ist, …“ – Nick: „Täter-Nuss? Gibt es denn auch eine Opfer-Kastanie?“

Seufz. Zur Opfer-Kastanie machte er sich irgendwie gerade selbst. Während ich mich um die Käsefüße aus der Vier kümmerte, durfte Nicknack den Wäschewagen ausräumen. Er dürfte natürlich auch zugucken und helfen,
das setzt aber voraus, dass er sich altersgemäß benimmt. Vor diese Wahl
wurde er gestellt, er hat sich indirekt für den Wäschewagen entschieden.

Die Frage, wo denn der Schuh drückt, verkniff ich mir und stellte fest, dass des Mannes Problem auch einfacher hätte behoben sein können, wäre zu Hause jemand gewesen, der ihm den Splitter aus der Fußsohle zieht. Das Ding war etwa drei Millimeter lang, vermutlich Fichtenholz, steckte fast parallel in den oberen Hautschichten und hätte mit einer einfachen Haushaltspinzette gezogen werden können. Zum Glück war die letzte Fußpflege noch nicht allzu lange her.

Das alles wäre nicht erwähnenswert gewesen, hätte der Herr mich nicht
kurz vor Abschluss mit einer Frage konfrontiert, die mich zu der Annahme verleitete, ich würde zu langsam arbeiten. War beim Splitter entfernen wirklich so viel Zeit vergangen, dass man auf solche Gedanken kommen musste? Er fragte mich: „Wenn ich Sie so sehe, mit dem Rollstuhl,
oder wenn ich andere Leute im Rollstuhl sehe, die ihre toten Beine als unnützen Ballast mit sich herum schleppen, dann frage ich mich immer: Warum lassen Sie sich die nicht einfach amputieren? Zumal Sie hier im Haus doch die besten Möglichkeiten hätten!“

Ein kleiner Teufel hielt vor meinem inneren Auge ein Plakat hoch, auf
dem geschrieben stand: „Aus dem gleichen Grund, aus dem du dein Gehirn auch nicht entfernen lässt, du Arsch.“ – Ein kleiner Engel nahm dem Teufel das Plakat aus der Hand und drehte es um. Der Teufel stemmte seine Hände in die Hüften. Der Engel guckte autoritär. Einen Moment lang
gefiel mir der Teufel und ich war drauf und dran, das Plakat laut vorzulesen. Eine eventuelle Beschwerde würde ich dann entweder mit seinen akkustischen Halluzinationen oder meinen vokalen Tics erklären. Am Ende gewann der Engel, der Teufel rauchte aus den Ohren und die Traumblase zerplatzte.

Ich sagte: „Nur weil jemand die Muskeln in den Beinen nicht oder nur eingeschränkt bewegen kann, zersägt man ja nicht gleich seinen ganzen Körper.“ – Er holte nochmal Luft, da wir aber ohnehin fertig waren, fuhr
ich ihm kopfschüttelnd in die Parade: „Also die Leute haben manchmal Ideen, das ist schier unglaublich.“

Bereits zur Tür gerollt und den Griff in der Hand, drehte ich mich nochmal um: „Die Schwester kommt gleich nochmal und hilft Ihnen beim Anziehen.“ – „Nicht nötig, so gelenkig bin ich noch.“ – Eine Verabschiedung sparte ich mir.

Zurück im Dienstzimmer sagte ich zu meiner freundlichen Anleiterin: „Er wollte, dass ich mir meine toten Beine amputieren lasse.“ – „Wat is los?!“ – „Der kommt bestimmt gleich nochmal hierher und will sich erklären. Hast du schnell noch was anderes für mich?“ – „In der Drei einen perianalen Abszess. Kannst schonmal vorfahren, ich komme gleich.“ –
„Du, meinetwegen auch das.“ – „Braucht der denn jetzt noch was?“ – Einer ihrer Kollegen, der im Hintergrund am PC tippte, murmelte: „Eine Benimmschule wäre wohl angemessen. Sorry.“ – Ich sagte: „Der ist versorgt und kann nach Hause.“

Perianaler Abszess ist natürlich auch fein. Die arme Frau, Mitte 30, hatte mein volles Mitgefühl. Der Gestank hielt sich zwar in Grenzen, eklig ist das aber dennoch. Ziemlich. Aber nicht eklig genug, um direkt danach im Dienstzimmer ein Stück Butterkuchen zu essen, das eine Schwester anlässlich ihres Geburtstages in die Runde warf. Einmal kurz singen, bevor die erste wieder an die Front musste. Und dann fragte meine Anleiterin nochmal so, dass alle es mitbekamen: „Was wollte der Typ mit dem Splitter jetzt von dir? Du solltest dir deine Beine amputieren?“

Ich gab den Schwank noch einmal in der Runde zum Besten. Der zufällig
anwesenden Physiotherapeutin fiel fast der Kuchen aus dem Mund. Sie brauchte einen Moment, bis sie sich wieder gesammelt hatte, dann nuschelte sie gereizt-genervt: „Auffe Fresse?!“ – Zu meinem großen Glück
fand sich niemand, der ihr widersprach oder gar ähnliche Ansichten hatte wie der Splitter-Patient. Ob der Engel einen weiteren Kampf gewonnen hätte – ich bin mir da nicht sicher.

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