Biester und Hexen

Sie bleibt spannend, die Diskussion darüber, ob ich mit jedem Patienten (Kunden) über meine Behinderung sprechen muss. Ob es unfreundlich ist, das abzulehnen. Ob ich verbiestert oder gar eine alte Hexe bin, wenn ich ein an meinem Arbeitsplatz von einem Patienten (Kunden) begonnenes Gespräch über die Amputation meiner Beine unwirsch im Keim ersticke. Wenn ich sogar angefasst reagiere auf diesen aus meiner Sicht nach wie vor unsäglichen und unerträglichen Vorstoß.

Gleich einreihen in diese Diskussion möchte ich die Frage, ob von mir
ständige Höflichkeit erwartet wird. Ob ich wirklich auf Augenhöhe kommunizieren darf. Ob ich Fragen zurückweisen darf, auch wenn sie nett gemeint oder aus reinem Interesse gestellt sind. Ob es mit meiner allgemeinen Offenheit unter einen Hut zu bringen ist, wenn ich nach Gutdünken Fragen meinem persönlichen Gegenüber einfach nicht beantworte.

Ich glaube, und damit beziehe ich mich auf etliche Leserinnen- und Lesermeinungen zu meinem letzten Beitrag,
erneut hervorheben zu müssen, dass ich die allgemein gehaltene Frage, warum sich ein querschnittgelähmter Mensch in aller Regel nicht seine Beine amputieren lässt, durchaus beantworten würde. Inzwischen haben das
andere Leserinnen und Leser in ihren öffentlichen Kommentaren bereits getan, so dass mir das nicht mehr nötig erscheint. Eine solche allgemeine Frage würde allerdings einen allgemeinen Rahmen voraussetzen.

Ein allgemeiner Rahmen kann ein Gespräch, meinetwegen auch eine öffentliche Diskussion oder eine persönliche Frage sein. Auch für ein Referat oder eine schriftliche Arbeit würde ich mich durchaus gerne mit dieser Fragestellung auseinander setzen. Dieser allgemeine Rahmen wäre aus meiner Sicht zum Beispiel dann gegeben, wenn der Fragesteller, hier der Splitter-Patient, dieses Gespräch auch mit einem approbierten Kollegen, der nicht im Rollstuhl sitzt, begonnen hätte. Jede Wette: Hätte er nicht.

Vielleicht, weil er den approbierten Kollegen nicht ausreichend im Thema gesehen hätte. Dann stell ich mir halt vor, dass an seinem Kittel auch „Unfallchirurg“ oder „Facharzt für Neurologie“ oder sonstwas einschlägiges steht. Womit ich nicht sagen will, dass alle diejenigen, an dessen Brust nicht so etwas angeheftet ist, inkompetent sind. Sondern
ich suche nach einem Reiz, dieses Gespräch zu beginnen. Meinetwegen kam
auch gerade ein Rollstuhlfahrer vor ihm aus dem Behandlungszimmer.

Fakt ist doch erstmal, dass es sich um eine Notfall-Aufnahme handelt.
Man mag dahingestellt lassen, ob man mit einem Holzsplitter im Fuß in die Notaufnahme geht. Vielleicht konnte er sich nicht anders helfen, mag
ja sein. Aber gerade wenn die Hütte voll ist, im Wartebereich Dutzende Leute sitzen, dann laber ich nicht noch unnötig rum, sondern beschränke meine Ansprüche auf das Wesentliche. Ich ruf doch auch nicht die Feuerwehr, weil nebenan seit drei Stunden eine Katze im Baum sitzt und kläglich miaut, und frage bei der Gelegenheit gleich mal nach, ob einer der starken Männer, die gerade nicht im Baum hängen, mit einer kleinen Leiter und etwas Wasser eben bei mir auf den Schränken Staub wischen könnte. Ich empfinde es als eine moderne Art der Unfreundlichkeit, zu sehen, dass mit mir noch fünf andere Kunden warten, und trotzdem den einzigen Verkäufer mit sinnlosen Fragen stundenlang an mich zu binden, nur um den vier anderen Wartenden zu zeigen, wer hier King ist.

Selbst wenn ich diese Notaufnahmen-Situation völlig ausblende und mir
vorstelle, dass mich alternativ beim Warten auf die S-Bahn jemand anspricht, ändert es nichts daran, dass wir uns nicht auf Augenhöhe befinden. Wir sind nicht miteinander bekannt, nicht befreundet, wir haben keinen über das Nötigste hinausgehenden Kontakt, und dann stellt mir jemand so persönliche Fragen und erwartet eine freundliche und liebevolle Reaktion?

Ich empfinde es einfach als eine egoistische Taktlosigkeit, mehrere Leserinnen und Leser haben sogar das Wort „Übergriffigkeit“ benutzt, die
Gebundenheit meiner Mitmenschen für eigene Belange auszunutzen. Nichts anderes mache ich, wenn ich den Polizisten, der gerade einen Unfall mit Verletzten aufnimmt, danach frage, ob man da vorne parken darf. Oder wenn ich der Kassiererin im Supermarkt oder dem Zimmermädchen im Hotel erkläre, wie sehr ich auf dicke Möpse stehe. Oder die Schauspielerin beim Sonnenbad am Strand für ein Autogramm wecke.

Ich kenne genügend Juristen, Bankangestellte und Ärzte, die regelmäßig auf Partys mit beliebigen Rechtsfragen, Anlagetipps oder Krankengeschichten überhäuft werden. Ich kenne sogar eine Ärztin, die manchem Redseligen auf Feiern einfach die Frage nach dem beruflichen Werdegang mit „Mutter“ beantwortet. Das fällt mir in der Notaufnahme natürlich besonders schwer – und das liegt nicht alleine daran, dass ich
keine Kinder habe.

„Du sprichst doch auch wildfremde Leute an, wenn du Hilfe brauchst“, habe ich mir kürzlich in einer ähnlichen Diskussion anhören müssen. Ist das tatsächlich ein Persilschein, mit dem ich kritiklos jede Ansprache und Frage, und sei sie noch so intim, erdulden muss? Resultiert daraus tatsächlich meine Verpflichtung, zu allen Menschen freundlich zu sein?

Auf Augenhöhe habe ich bisher jede Frage beantwortet. In meinem Blog habe ich bisher nahezu jede Frage beantwortet, denn hier sehe ich mich in einer völlig anderen Rolle. Aber in der Öffentlichkeit mal eben aufgrund meiner sichtbaren Behinderung dazu befragt zu werden, ob der Sex klappt, ob ich meine Beine amputieren lasse, ob ich Windeln tragen muss – das ist schlicht unangemessen. Oder fragt ihr die Frau mit dem Kinderwagen im Bus auch, in welcher Stellung der Sprößling gezeugt wurde, ob die Narbe des Kaiserschnitts schon gut verheilt ist oder ob es
beim Niesen noch tröpfelt?

Aber, und das muss ich dann natürlich auch erneut hervorheben, gegen die grundsätzliche Diskussion über das Thema habe ich überhaupt nichts einzuwenden. Wenn sich jemand, aus welchen persönlichen Gründen auch immer, dafür entscheidet, bei einer Querschnittlähmung seine Beine amputieren zu lassen, akzeptiere ich das. Ich würde zwar meine Bedenken anmelden, wenn ich gefragt werde, aber die letzte Entscheidung über seinen Körper trifft wohl der betroffene Mensch. Und ich lasse mich auch
gerne (und vermutlich auch leicht) davon überzeugen, dass beispielsweise starke Schmerzen ein guter Grund sein können. Menschen sind verschieden; die Gründe und die persönliche Gewichtung von Argumenten ebenso. Das nennt man Vielfalt. Glaube ich. Vor demjenigen, der seine Hand durch eine Prothese ersetzt, lüfte ich sogar ein wenig meine Wollmütze, denn ich glaube nicht, dass ich mich das trauen würde.

Ich würde, selbst wenn ich weiß, dass er darüber bloggt, niemals auf die Idee kommen, ihn bei meinem Besuch auf dem Finanzamt anzusprechen, dass er ja nicht mehr länger in der miefigen Amtsstube sitzen müsste, wenn er sich entscheiden könnte, seine gelähmte Hand durch eine mikroprozessorgesteuerte Handprothese zu ersetzen. Ich denke nämlich, dass es seine Gründe hat, warum er sich entweder mit dem Thema noch nicht befasst hat, oder warum er sich trotz Befassens dagegen entschieden hat. Ich denke nicht, dass er nur auf meine Idee, mein Wissen oder meine Motivation gewartet hat. Und ich glaube, nur weil ich beide Hände frei bewegen kann und nicht gerne in einer Behörde arbeiten würde, kann ich mich noch lange nicht in seine Situation hineinversetzen. Das weitestgehend zu versuchen, würde ich aber von mir erwarten, bevor ich schlaue Ratschläge verteile. Und das kann ich nur dadurch, dass ich den Menschen, genauer gesagt: seine Perönlichkeit, näher kennenlerne. Die fachlichen Informationen hole ich mir im Zweifel aus dem Internet. Oder ich frage Menschen, die sich bereit erklärt haben, mit mir über dieses Thema (oder solche Themen) zu sprechen. Oder zu schreiben.

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