Eine weitere Woche meiner Famulatur ist geschafft. Es macht sehr großen Spaß, allerdings bin ich auch froh, wenn es vorbei ist. Die körperliche und vor allem die seelische Belastung ist wirklich nicht zu unterschätzen. Mit meiner Chefin komme ich ganz gut klar, mit den übrigen Mitarbeiterinnen überwiegend auch. Überwiegend heißt: In der Praxis sind sechs Mitarbeiterinnen hauptsächlich in Teilzeit beschäftigt. Eine Minijobberin, Uschi, kurz vor der Rente, arbeitet nur an einem Nachmittag. Mit ihr bin ich am letzten Montag, unserem ersten gemeinsamen Tag, richtig heftig aneinander geraten.
Bei dutzenden Patienten klappte alles irgendwie. Die Routine fehlt mir, ich muss ständig fragen, oft kann ich nur raten, Atemwegsinfekte sind das Dauerthema. Dann kommt eine junge Familie in die Praxis, ist eigentlich sonst bei einem anderen Kinderarzt. Dessen Praxis ist krankheitsbedingt geschlossen. Die elf Monate alte Tochter ist akut verschnupft und hat leichtes Fieber. Nach Angaben der Mutter hustet sie auch – nicht ständig, aber wenn, dann extrem heftig. Es handele sich um trockenen Reizhusten. Ich soll die Vorgeschichte aufnehmen und dokumentieren, das Kind untersuchen und wenn ich fertig bin, die Chefin dazurufen. Natürlich bevor das Kind wieder angezogen wird.
Das Kind findet meine Untersuchung spannend und guckt mich aufmerksam
an. Das Mädchen ist insgesamt recht warm, hat aber trockene und auffallend blasse Haut. Auffällig ist auch ein sehr schlanker Ernährungszustand. Die oberen Atemwege sind etwas verrotzt, die Ohren sind unauffällig, der Hals ist leicht gerötet. Die Lunge ist überall frei. Ich weiß nicht warum, aber irgendein inneres Bedürfnis hat mich dazu veranlasst, das Herz sehr genau abzuhören. Alte Hasen machen das sehr routiniert und hören sofort, wenn da etwas nicht stimmt, genauso wie ein absoluter Autofreak schon beim Reinfahren in die Werkstatt weiß,
welches Bauteil gerade rasselt. Ich hingegen habe von Automotoren allenfalls einen oberflächlichen Plan und muss mich beim Abhören des Herzens sehr konzentrieren und mir im Kopf Bauplan und Funktionsweise aufrufen, um die Töne den verschiedenen Aktionen zuordnen zu können. Ich
habe es einfach noch nicht oft genug gemacht, um routiniert zu sein. Man muss dazu wissen, dass es neben dem allgemein bekannten „Herzschlag“
noch mehrere weitere Töne gibt, die ein Herz machen kann, und die völlig normal sind. Einige Geräusche sind aber krankhaft. Einige Geräusche, die bei Erwachsenen krankhaft sind, sind wiederum bei Kindern
völlig normal. Einige Geräusche, die nicht normal sind, sind neben den lauten, völlig normalen Herztönen kaum zu hören.
Dieses Herz schlägt völlig regelmäßig und auch fast unauffällig. Nur …
ich glaube, an der Herzspitze ein regelmäßiges, ganz leises Klicken zu hören. Das Kind guckt mich geduldig an. Die Eltern quasseln in einer Tour. Ich sage: „Tschuldigung, könnte ich bitte einmal kurz abhören? Wir
können gleich reden, nur ich höre im Stethoskop nichts, wenn wir uns nebenbei unterhalten.“ – Kein Problem. Ja, da klickt wirklich was. Und jetzt, wo ich genau hinhöre, ist auch ein an- und abschwellendes Rauschen / Fiepen zu hören. Ganz kurz, recht leise, also leiser als das Atemgeräusch, immer kurz nach dem dumpfen ersten Herzton (Anspannungston). Sehr schwierig zu hören, weil ein Kinderherz sehr schnell schlägt. Normal sind solche Geräusche auf jeden Fall nicht. Ob sie behandlungsbedürftig sind, kann man aber pauschal nicht sagen. Man muss wissen, dass viele geringfügige Abweichungen keine Auswirkungen oder Folgen haben.
Vermutlich ist das völlig harmlos, denn ich bin ja nicht die erste, die sich das Herz anhört. Bevor sich da also nun unnötig jemand Sorgen macht, möchte ich, dass meine Chefin sich das anhört und mir hinterher kurz erzählt, was ich da gehört habe. In dem Moment kommt Uschi, die besagte Minijobberin, ohne Anzuklopfen in das Zimmer gepoltert und fragt, wie lange das denn hier noch dauert. Mir steht nicht zu, darüber zu urteilen, aber ich finde es unverschämt. Es dauert so lange wie nötig. Wir werden schon kein Kaffeekränzchen machen. Ich überhöre das und bitte sie: „Ja, könnten Sie bitte einmal der Chefin Bescheid sagen, dass sie noch einmal mit abhört, ich bin mir bei einer Sache nicht ganz sicher.“
Sie nickt und geht raus. Das Kind ist noch immer ganz ruhig und daddelt mit einem Spielzeug herum, während es unter einer Wärmelampe gegrillt wird. Kurz danach spielt die Mutter mit dem Kind, der Vater erzählt mir, dass die Tochter bislang sehr pflegeleicht ist. Nach drei Minuten gucke ich, wo die Chefin bleibt. Möglicherweise hat sie gerade selbst viel zu tun. Nein, sie steht an der Anmeldung und füllt irgendwelche Zettel aus. Das Wartezimmer ist voll. Als sie mich sieht, fragt sie: „Na, bist du soweit? Ich warte auf dich, bevor ich meinen nächsten Patienten aufrufe.“ – „Und ich warte nur auf dich.“ – „Achso, ich habe das so verstanden, als wenn du noch einen Moment brauchst.“
Auch das kommentiere ich nicht. Aber ich wollte ihr vorher sagen, was
ich gehört habe, ohne dass die Eltern daneben stehen. Es ist zwar immer
wichtig, auch das Fach-Chinesisch zu beherrschen, aber zur groben Informationsweitergabe kann man auch Deutsch reden. Also sage ich ihr, dass ich an der Herzspitze ein Klickgeräusch höre. „Außerdem rauscht da was.“ – Meine Chefin geht voraus. Uschi, die die Worte mit angehört hat,
sagt zu mir: „Und bei dir rauscht es im Kopf.“
Ich dachte, ich hätte mich verhört. Ich frage nach: „Wie bitte?“ – „Ist doch wahr. Du bist nicht die erste Famulantin, die entweder die komplette Praxisorganisation auf den Kopf stellt, altbewährte Methoden über den Haufen wirft und neumodischen Schwachsinn einführen will oder glaubt, das Fachwissen direkt vom Herrn vermittelt bekommen zu haben und
über alle Erfahrungen erhaben zu sein.“ – Boa, wie ungerecht! Sie kennt
mich noch nicht mal eine Stunde und kommt zu so einem Urteil? Ich glaube es nicht. Eine Kollegin lacht und sagt: „Nun lass mal gut sein, das ist heute wirklich nicht dein Tag.“ – Sie setzt noch einen drauf: „Nein, es nervt mich einfach, wenn hier ein Schnullerdoc nach dem nächsten den ganzen Laden aufmischt. Es war eine glückliche junge Familie – bis eine Medizinpraktikantin ein Rauschen hörte.“ – Ihre Kollegin sagt: „Die Chefin guckt sich das deswegen ja gerade an und wird
das mit Sicherheit einordnen können. Du warst auch mal jung und hast mal klein angefangen.“ – Ich schüttel nur mit dem Kopf und rolle in das Sprechzimmer zurück. Ich würde mich sowas nicht trauen.
Die Chefin lauscht konzentriert. Ich gucke sie an. Werde ungeduldig. Frage: „Und?“ – Sie nickt. Zumindest schon mal keine Einbildung oder irgendwas ganz anderes. Sie nickt noch einmal. Und fragt die Mutter: „Ist das Herz ihrer Tochter mal untersucht worden?“ – „Was ist mit ihrem
Herz?“ – „Nun, vermutlich gar nichts, deswegen frage ich.“ – „Naja, wir
haben bisher alle Vorsorgeuntersuchungen eingehalten.“ – „Ist mal ein Ultraschall gemacht worden?“ – „Das weiß ich nicht.“ – „Ich würde Sie bitten, einen Kardiologen aufzusuchen, um ein Ultraschall vom Herzen machen zu lassen. Man hört bei Ihrer Tochter ein Herzgeräusch, das einfach eine harmlose Besonderheit sein kann, die nicht stört und die man nicht weiter beachten muss und die vielleicht im Wachstum wieder verschwindet. Um hier aber auf Nummer Sicher zu gehen, sollten wir das einmal abklären.“ – „Müssen wir uns Sorgen machen?“ – „Sie sollten besorgt genug sein, um das einmal überprüfen zu lassen. Aber mehr erstmal nicht.“
Immerhin war es erstmal dringend genug, dass die Chefin persönlich aus dem Behandlungszimmer in einer Kinderklinik angerufen und einen Termin für den nächsten Morgen gemacht hat. Die Familie ging besorgt nach Hause und bis zum Feierabend hat mich Uschi nicht mehr angeguckt. Weil ich nicht möchte, dass irgendwas im Raum stehen bleibt, habe ich sie noch einmal angesprochen. Sie giftete herum, ich sei dafür verantwortlich, dass der kleine Wurm nun durch die Mühlen der Diagnostik
gedreht wird und später irgendeine Klinik irgendeinen lukrativen Eingriff vornimmt, der eigentlich nicht nötig gewesen wäre. Mit möglicherweise lebenslangen Folgen für das Kind.
Ist es meine Aufgabe, solche Methoden zu kompensieren? Meine Chefin hat die Mutter gebeten, zur Besprechung des Befundes noch einmal zu kommen oder zu ihrem Kinderarzt zu gehen. Soll ich jetzt künftig meinen Job nicht mehr machen und Probleme für mich behalten, weil sie anderen einen Anlass zu Betrug und sinnlosen Behandlungen geben könnten? Ich sagte nichts dazu. Es steht mir, erneut, nicht zu, über das Verhalten der Mitarbeiterin zu urteilen. Auf einer Gesprächs- und Diskussionsebene
rechnete ich mir von vornherein keine Chancen aus.
Uschi verschwand pünktlich mit Ende der Sprechzeit. Nachdem die letzten Patienten bedient waren und alles aufgeräumt war, setzen wir uns
üblicherweise noch einmal kurz zusammen und sprechen bei einem Kaffee oder einem Tee noch einmal fünf bis zehn Minuten über den Tag. Und über das, was am nächsten Tag ansteht. Organisatorisch wie auch inhaltlich. Ich wollte das aus meiner Sicht unmögliche Verhalten der Minijobberin nicht in dieser Runde ansprechen, zumal sie nicht mehr vor Ort war. Aber
jene Kollegin, die zuvor schon fragte, ob sie einen schlechten Tag hätte, thematisierte das noch einmal: „Uschi musste man heute wieder mit
der Kneifzange anfassen. Du hast den Segen ja auch einmal geballt abgekriegt“, sagte sie und guckte mich an. Ich nickte. Sie fragte: „Was ist da jetzt eigentlich rausgekommen? Ich habe das am Ende nicht mehr mitgekriegt. Waren da nun Herzgeräusche?“ – Meine Chefin sagte: „Ja. Wie
bist du darauf überhaupt gekommen, Jule?“
Ich sagte: „Ich weiß es nicht. Ich habe die Lunge abgehört, natürlich
auch einmal kurz das Herz, und aus irgendeinem Grund habe ich genauer hingehört. Das war eigentlich reiner Zufall.“ – „Nun back mal nicht so kleine Brötchen. Das war eine Sternstunde. Das haben vor dir einige Kollegen überhört und ich bin mir auch nicht sicher, ob mir das in der Routine aufgefallen wäre.“ – „Na gut, dann eben Glück“, sagte ich, denn es war wirklich ein Zufallsfund. Meine Chefin ließ nicht locker: „Mädel,
deine hanseatische Bescheidenheit in allen Ehren, aber das muss einem ja überhaupt erstmal auffallen! Du hast Ohren wie ein Luchs. Und nun sag
nicht, es liegt nur am guten Stethoskop, das lass ich nicht gelten.“ – Okay, ein wenig Seelenbalsam nach der Begegnung mit Uschi tut ja ganz gut.
Die Familie kam heute wieder. Sie war wie ausgewechselt. Die Mutter weinte. Das Kind hat einen angeborenen Herzfehler (genauer gesagt an der
Mitralklappe, das ist die Herzklappe, die verhindert, dass Blut aus der
linken Herzkammer in den linken Vorhof zurückfließt). Wohl keine ganz große oder ganz dringende Sache, aber man will noch weitere Untersuchungen machen und es ist möglich, dass das operativ versorgt werden muss, wenn die durch den Herzfehler verursachte Undichtigkeit zu groß ist und langfristig zu Problemen führt.
Das tut mir sehr leid und ich hoffe, dass es richtig war, sie in die Herzklinik zu schicken. Uschis Worte, die sicherlich auf eigene schlechte Erfahrungen, ob nun persönlich oder im Laufe der langen Dienstzeit gemacht, basieren, wollen mir natürlich nicht aus dem Kopf. Aber trotzdem denke ich, dass ich richtig gehandelt habe. Es ist nur einfach so verdammt schwierig, alles zu überblicken. Nicht nur fachlich,
sondern auch noch (zwischen-) menschlich und hinter dem Horizont. Vor allem in dem Takt, den das volle Wartezimmer vorgibt.