Schnee und Wind

„Habt ihr es warm? Habt ihr genug zu essen? Sind die neuen Nachbarn
nett? Habt ihr euch schon eingelebt? Ist es nachts auch nicht zu laut?“
– Maries Oma konnte gar nicht schnell genug fragen. Marie antwortete: „Die Heizung funktioniert, zu essen haben wir zum Glück auch genug. Bisher sind die neuen Nachbarn nett, eingelebt haben wir uns noch nicht wirklich, aber das kommt noch – und nachts ist es so ruhig, dass man die
Flöhe husten hört.“ – „Dann bin ich beruhigt und muss mir keine Sorgen machen.“

Muss sie nicht. Aktuell sind Semesterferien, aktuell sind wir im Norden, haben, bevor wir für ein weiteres Semester wieder regelmäßig in den Süden donnern, noch ein paar Wochen Zeit, um unsere neu fertig gestellte Wohnung im Hamburger Randgebiet zu beziehen. Mit der Planung, im Sommer eventuell dauerhaft wieder zurück in den Norden zu kommen. Wie
schon gesagt, Nordlicht bleibt Nordlicht.
Aber endgültig steht das Ende unseres „Auslandsstudiums“ noch nicht fest, eventuell bleiben Marie und ich auch noch bis zum kommenden Winter
in einer Landschaft, in der man eben nicht schon morgens sieht, wer abends zu Besuch kommt.

Kaum sind wir in Hamburg, beginnt es zu schneien. Aus mehreren Winterdiensten hatten wir ein Angebot herausgesucht, schon lange vor Bezugsfertigkeit des neuen Hauses. Es war nicht das günstigste, sondern das einer seriös erscheinenden Firma aus der Nähe. Wir hatten die Hoffnung, es würde dann nicht der Subsubsub-Unternehmer des Subunternehmers auftauchen, sondern jemand, der seinen Auftrag so erfüllt, wie wir es vereinbart haben. Gerne zahlen wir dafür drei Euro pro Stunde mehr.

Mit der weißen Pest ist es bei Rollstuhlfahrern so eine Sache. Ich kenne kaum jemanden aus der Szene, der gerne mit dem Rolli im Schnee unterwegs ist. Der Stuhl ist dafür nicht gemacht, die kleinen Räder bleiben stecken, die Hände werden kalt, die Greifreifen rutschig … klar,
man kann alles mögliche ausprobieren. Handschuhe, dicke Räder, Greifreifen-Überzüge – nur will man das? In Handschuhen hat man entweder
kaum Grip oder wird nach kurzer Zeit doch kalt, die breiteren Räder passen nicht ohne weiteren Umbau an den Stuhl. Kurzum: Asche. Weiße Pest
eben.

Die Räumfirma bekam somit den Auftrag, den Zuweg von der Straße zum Eingang auf einer Breite von mindestens zwei Metern von Schnee und Eis zu befreien und anschließend, soweit überhaupt nötig, etwas rutschhemmenden Sand zu streuen. Der Gehweg an der Straße sollte über die Grundstücksgrenze hinaus bis zur Bushaltestelle ebenfalls auf zwei Meter Breite geräumt werden. Über die Grundstücksgrenze hinaus, weil das
Nachbargrundstück nicht bebaut ist, und bevor wir alle nicht zum Bus kommen, regeln wir das lieber selbst. Kostenpunkt: 1.250 Euro brutto pauschal pro Winter.

Wenn man bedenkt, dass in Hamburg durchschnittlich nur an 20 Tagen pro Jahr die Tages-Höchsttemperatur unterhalb des Gefrierpunkts bleibt (an weiteren 58 Tagen sinkt zwar die nächtliche Tiefsttemperatur unter den Gefrierpunkt, am Tag sind allerdings Plus-Grade) und durchschnittlich nur jeden zweiten (1,8) Tag überhaupt Niederschlag fällt, braucht man eigentlich nicht mehr die Anzahl der Schneetage nachblättern. Es sind in Hamburg durchschnittlich 15.

Gehen wir mal davon aus, dass die Räumfirma an diesen Tagen zwei Mal kommen muss, sind das pro Einsatz rund 40 Euro. Eine Person (wir haben es ausprobiert) wäre mit dem Auftrag gut eine Stunde beschäftigt – aus meiner Sicht ein mehr als fairer Preis, auch wenn die mit ihren Räumgeräten und gleich zu viert anreisen.

Was passiert aber? Die Firma schiebt halbherzig einen Haufen Schnee vom Privatweg auf den öffentlichen Gehweg, so dass alle Fußgänger und Rollstuhlfahrer nun über die Fahrbahn ausweichen müssen. Alleine dafür schon müsste man alle vier gleich einseifen. Man räumt auch nicht komplett, sondern lässt eine Schicht Schnee liegen und verteilt auf dieser Schicht einen ganzen schwarzen Eimer Streusplitt. Die Räumbreite ist mit 60 Zentimetern nicht mal annähernd das, was vereinbart war. Der öffentliche Weg, der auf einer Breite von mindestens einem Meter zu räumen gewesen wäre, wird nur abgestreut (also es wird Splitt auf den Schnee geworfen).

Die nun folgende Diskussion mit der Chefin war einfach atemberaubend.
„Das ist gesetzlich so zulässig. Wenn doch mal jemand stürzt, sind wir versichert, das fällt nicht auf Sie zurück.“ – „Mich interessiert nicht,
was gesetzlich zulässig ist, sondern was wir vereinbart haben. Und es geht auch nicht darum, ob ich haften müsste, denn dagegen sind wir ohnehin versichert, sondern ob ich mit dem Rollstuhl zum Bus komme. Oder
die anderen Mieter.“ – „Ja, da können wir leider nichts machen, die Mitarbeiter haben ja noch andere Aufträge zu erfüllen und gerade morgens, wenn überall frischer Schnee liegt, kämen wir ja gar nicht hinterher.“

Zum Glück hatten wir einen schriftlichen Vertrag, in dem alles genau beschrieben war, einschließlich Zeichnung. Unser Anwalt hat dann gleich eine Abmahnung gefaxt. Als sich am nächsten Tag nichts änderte, kam die Frage, ob sie 500 € plus Anwaltskosten freiwillig übernehmen und wir sie
dafür aus dem Vertrag entlassen oder ob wir uns (anstelle einer außergerichtlichen Einigung) lieber über eine fristlose Kündigung mit Schadenersatz streiten wollen. Am Ende waren es 600 € einschließlich Anwaltskosten – und tschüss. Die spinnen wohl. Sie müssen den Auftrag doch nicht annehmen.

Inzwischen haben wir Ersatz. Bora, benannt nach dem Wind in Kroatien,
räumt wie ein Weltmeister. Oder vielleicht sogar wie der Wind. Eine Mieterin kennt ihn und hatte ihn empfohlen. Er war bis vor kurzer Zeit Schulhausmeister in Niedersachsen, sein Vertrag lief aber aus und im Moment arbeitet er bei seinem Bruder im Imbiss. Seine Frau könnte auch die Treppenhausreinigung übernehmen. Wir haben uns jetzt erstmal auf 200
€ pro Monat auf Minijob-Basis bis einschließlich April geeinigt, danach
schauen wir mal, ob er sich vielleicht um den Rasen und die Sträucher kümmern möchte. Lieber stellen wir da einen zuverlässigen Hausmeister ein als in den Fängen von Abzockern festzuhängen und uns nur zu ärgern.

Apropos ärgern: Habe ich schon erwähnt, dass nicht weit vom Haus entfernt ein kleiner Fluss fließt, auf dem man Kajak fahren kann? Ich glaube, es wird ein schöner Sommer…

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