Ich hatte heute ein sehr spannendes Gespräch mit meiner Psychologin. Ich hätte nie gedacht, dass Psychotherapie so spannend sein
kann. Vielleicht habe ich aber auch nur etwas sehr wichtiges endlich verstanden. Da muss ich erst mal drüber nachdenken. Ich weiß es nicht.
Sie hat gesagt: „Ganz viel Aufmerksamkeit bzw. oft auch Liebe und Anerkennung bekommt jeder Mensch schon als kleines Kind für Leistung und
Fortschritt. Wenn sie das erste Mal „Mama“ sagen, freuen die Eltern sich ohne Ende. Dann Schleife binden, Bilder malen, sprechen, Fahrrad lernen, lesen, schreiben, singen. Meine Kleine lernt jetzt Englisch. Die
Tochter hat eine Eins in Mathe, etc.
Das hat man so gelernt. Wenn man gut ist und schneller und besser als
die anderen, krieg ich eine Belohnung oder Liebe etc. Wenn ich eine Fünf habe, gibt es eher Stress, und wenn ich Pickel hab, lachen und lästern die anderen. Bei ganz vielen Menschen definiert sich das Leben nur so. Wenn die dann plötzlich behindert sind … ja worüber definiert sich dann das Leben?“
7 Monate hat es gebraucht. Ich glaube, heute ist der Knoten geplatzt und ich habe verstanden, warum es mir so geht wie es mir psychisch geht.
Wahrscheinlich haben alle um mich herum das schon ewig geschnallt, aber
so wie heute habe ich da noch nie drüber nachgedacht. Ich glaube, durch
den Sport gestern habe ich das verstanden.
Aber das ging noch weiter. Ich habe jetzt 7 Monate gebraucht. Ich kann es nicht verdrängen. Mein Vater kann das. Wenn es zu viel wird, einfach nicht mehr drüber nachdenken. Die psychologin hat gesagt: Rollstuhlfahren lernt man. In ein oder zwei Jahren macht mir keiner mehr
was vor. Das ist keine Kunst! Das können Dreijährige, wenn man sie in einen Kinderrollstuhl setzt, von alleine. Kunst ist es, mit seinen Mitmenschen auszukommen, und zwar auch mit denen, für die das ganze Leben nur Erfolg und Leistung und feste Planung ist. Diese Menschen wissen nicht, wie ein Rollstuhlfahrer „leben“ kann, weil er einfach nicht so ist wie in den Plänen mit Erfolg und Leistung.
Sie sagt, dass es immer wieder vorkommen wird, das Leute mich deshalb
nur belächeln oder sogar anmachen. Sie hatte dafür auch irgend einen Namen, den ich vergessen hab, irgend was mit affektiv.
Mein Problem ist, dass ich nicht weiß, wie ich mit diesen Menschen (und gerade mit meiner Familie) umgehen soll. Bei den Leutis vom Sport konnte ich einfach „ich“ sein. Die kennen mich nicht anders, die kennen die Situation, da konnte ich mich völlig fallen lassen.
Bei meinem Vater kann ich das nicht. Mir ist das total peinlich. Ich bin unnormal. Ich habe etwas, was er nicht kennt. Ich kann Dinge, die er
nicht kann, und mit denen er nicht umgehen kann. Er weiß nicht, was ich
spüre und was nicht. Er weiß nicht, wie meine Beine unter der Hose aussehen. Wenn die anfangen zu zittern (Spastik), ist mir das vor ihm peinlich. Er weiß nicht, dass ich unter der Bettdecke nackt bin, wenn ihm meine Tante das nicht erzählt hat. Er weiß nicht, dass ich inkontinent bin und Pampers tragen muss. Ich schäme mich vor ihm für diese ganzen Dinge und möchte das alles am liebsten totschweigen.
Es ist mir peinlich, wenn ich mir vorstelle, ich habe irgendwann mal einen Freund und der küsst mich oder sogar mehr und mein Vater weiß das oder sieht das. Ich bin schon „besonders“ genug. Unser Verhältnis ist mir schon peinlich bis zum Anschlag, und ich kann mir auch nicht vorstellen, dass das irgendwann mal anders wird. Und bei meiner Mutter denke ich, sie träumt weiter von ihrer gesunden Tochter und wird es nie verstehen. Keine Ahnung.