Mein letzter Tag in der Klinik

Es ist wieder Sommer. Wie vor einem Jahr, als ich noch bei meinen Eltern wohnte. Als ich mit behinderten Menschen und Rollstühlen noch nichts am Hut hatte. Als mein Leben noch so normal oder unnormal war wie
das von Millionen und Milliarden anderer Jugendlicher.

Viel hat sich in dem letzten Jahr getan. Die meisten meiner alten Freunde habe ich verloren. Meine Familie ist nicht mehr die Familie, die
ich kannte. Ich bin erwachsener geworden. Ich habe einen Führerschein bekommen. Früher als ich es mir je erträumt hätte. Jemand anderes hat stattdessen seinen Führerschein verloren, vermutlich für immer. Jemand anderes kommt vermutlich in den Knast.

Ich bin Heli geflogen. Ich habe auf einer Intensivstation gelegen. Ich habe eine Psychotherapie angefangen. Ich kann Rollstuhlfahren. Und Kraulschwimmen. Vorwärts und auf dem Rücken. Ich kann mir selbst Medikamente spritzen. Ich kann mich alleine katheterisieren. Dinge, die ich vor einem Jahr nicht konnte. Oder noch nie probiert habe.

Ich habe viele liebe Menschen kennen gelernt. Sie alle zusammen sind der Grund, warum ich wieder Freude an meinem Leben gefunden habe. Ich möchte sogar noch ein Stück weiter gehen (nein, ich habe keine Psychopillen geschluckt und auch nichts geraucht) und behaupten: Wenn mir heute eine Fee begegnet, die mir anbietet, aus einem (diesem) Traum aufzuwachen und alles ist wie vor dem Unfall – ich würde es nicht wollen. Meiner Freunde wegen.

Das Krankenhaus, in dem ich behandelt wurde, hat an mir knapp 278.000
Euro verdient. Zusammen mit den Versicherungssummen hat mein Unfall schon jetzt über eine Million Euro gekostet. Eine Million für drei Sekunden Idiotie in dem Kopf einer Rentnerin.

Ich bin heute gefragt worden, ob ich mich tief drinnen in mir ausgeglichen und ruhig fühle. Ich habe es bejaht. Natürlich gehe ich – hoppla – rolle ich in eine ungewisse Zukunft. Aber: Sie bedrückt mich nicht. Ich werde meinen Weg finden. Da bin ich mir sicher.

Aber mich bedrückt auch etwas. Sehr sogar. Ich habe fast ein Jahr lang in einem Krankenhaus verbracht. Die Menschen hier, das Personal, wird mir fehlen. Es hört sich wahrscheinlich total bescheuert an, aber dieses Krankenhaus kann ich mit gutem Gewissen empfehlen. Na klar, irgendwann kann man das Essen nicht mehr sehen, irgendwann nerven einen die Unruhe und die fehlende Privatsphäre. Wie überall gibt es auch hier Personen, die man nicht leiden kann. Aber von der Putzfrau bis zum Chefarzt tragen hier bis auf ganz, ganz wenige Ausnahmen alle das Herz am richtigen Fleck. Man spürt, dass fast alle Menschen hier Spaß an ihrer Arbeit haben. Man spürt es wirklich. Und das in dem Stress eines Krankenhauses im Jahr 2009. Ich werde mit Sicherheit einige Male hierher
zurück kommen, einfach um „Hallo“ zu sagen.

Wie wird es weitergehen? Ich freue mich auf meine neue WG. Auf mein neues Zimmer. Auf meine neue Schule. Auf meine neuen Freunde. Auf mein neues Bett. Auf mein neues Auto (hoffentlich!). Auf mein neues Leben. Und darauf, endlich mal wieder ausschlafen zu können.

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