Ich hätte mir nicht träumen lassen, dass ich mal zur Nachtzeit trainieren würde. Man hört und liest ja immer mal wieder, dass einzelne Sportlerinnen und Sportler in den frühen Morgenstunden joggen gehen, aber organisiertes Training zur Nachtzeit? Während andere Leute schlafen oder in Partystimmung sind?
Schon um kurz nach halb Zwei wurde ich mit einem Kleinbus abgeholt. Am Steuer saß Tatjana, die ich schon vom Trainingslager kannte. Im Auto traf ich Yvonne. Die Bänke waren ausgebaut, dort waren vier Rennrollstühle und der Alltagsrolli von Yvonne eingequetscht. Mein Alltagsrolli kam noch hinzu. Ich kuschelte mich neben Yvonne auf die Beifahrer-Sitzbank. Schon ging es los. War das aufregend!!!
Wir fuhren an den Stadtrand, fast bis nach Schleswig-Holstein, direkt an einen Elbstrand. Auf der Fahrt bekam ich erklärt, wie so ein Straßentraining abläuft. Grundsätzlich, da es ein Training ist und kein Rennen, bleiben alle immer zusammen. Wenn einer stehen bleiben muss, bleiben alle stehen. Wir trainieren in zwei Gruppen, in einer sind zwei richtig gute Athleten mit einem eigenen Trainer im eigenen Begleitfahrzeug, in der zweiten bin ich und noch fünf andere Leute. Unsere Trainerin fährt ebenfalls in einem Begleitfahrzeug hinterher. Jeder Sportler bekommt einen Sender in ein Ohr, über den die Trainerin einem was ins Ohr funken kann.
Die Rennrollstühle müssen Reflektoren nach hinten, nach vorne und zur Seite tragen, dazu jeweils ein (LED-) Licht nach vorne und nach hinten, dürfen aber im Straßenverkehr eigentlich nur auf Gehwegen fahren. Da dort keiner trainieren kann und man im richtigen Rennen auch nicht auf dem Gehweg fährt, dürfen wir nachts auf ausgewählten Fahrbahnen trainieren, wenn ein Begleitfahrzeug das ganze nach hinten absichert. Dafür braucht man extra eine Genehmigung!
Ansonsten gilt: Ganz weit rechts fahren. Fahren nur hintereinander, an Ampeln anhalten, dann allerdings in Zweierreihen nebeneinander. Ansonsten gelten die normalen Verkehrsregeln wie für Radfahrer.
Ein Rennrollstuhl ist beim Triathlon das Pendant zum Laufen, nicht etwa zum Radfahren. Dafür gibt es ein mit den Händen über eine Kurbel angetriebenes Bike. Ein Rennrolli sieht etwa so aus:
Bei der Straßenversion sind eben noch Reflektoren dabei sowie ein Halter für die Trinkflasche. Ich darf einen sechs Jahre alten Rennrolli ausleihen, den vorher eine Kaderathletin mit ungefähr meinen Maßen gefahren hat. Sie fährt heute ein neueres Modell.
Endlich kamen wir an unserem Startplatz an. Yvonne fragte, ob ich aufgeregt sei. Ich war unendlich aufgeregt! So aufregende Dinge mache ich nachts normalerweise nicht…
Cathleen ist von ihrer Mutter zum Startplatz gebracht worden. Bei Simone war der Vater dabei. Aileen und Tim kannte ich noch nicht. Die beiden Profis fuhren bereits los. Ich sollte mich mal in meinen Rennrolli setzen, eventuell müssten noch Dinge eingestellt werden. Tatjana half mir, mich dort hineinzuzwängen. Nein – der passte wie angegossen. Die Füße hingen noch ein wenig komisch in der Gegend herum, aber ansonsten war der wie für mich gemacht. So ein Glück!
Simone saß bereits halb in ihrem Rennrolli, spielte mit ihrer Trinkflasche herum und wartete. Cathleen kam gerade vom Klo. Ich hatte mich schon gewundert, warum man ausgerechnet hier startet, aber hier war neben einem öffentlichen Badestrand eine rollstuhlgerechte Toilette mit dem Euro-Schließsystem. Gute Planung. „Willst du zuerst auf Klo oder darf ich?“ fragte Yvonne mich.
„Nö, ich war zu Hause gerade“, antwortete ich. Yvonne widersprach: „Ich würde trotzdem nochmal gehen.“ Ich schüttelte den Kopf. „Nee, ich muss nicht.“ Cathleen mischte sich ein: „Sie kathetert nicht.“ – „Achso“, erwiderte Yvonne knapp und dampfte ab.
„Ich versteh nur Bahnhof“, sagte ich und blickte Cathleen an. Sie erklärte es mir: „Die Kathetermäuse sollten am Anfang eine leere Blase haben, damit sie nicht so schnell voll wird. Sonst staut sich das bei denen nämlich in die Nieren zurück und dann kippen sie um, wenn sie Pech haben. Außerdem macht das auf Dauer die Nieren kaputt. Und da unterwegs kein Rolliklo ist, müssen die dann im Notfall irgendwo am Straßenrand kathetern, das ist nicht so angenehm, außerdem hält das die ganze Gruppe auf. Übrigens … hast du eigentlich noch ne Pampers an?“
Simone und die Mutter von Cathleen guckten mich an. Ich merkte, wie meine Wangen dunkelrot wurden. Ich weiß nicht, wann ich mit dem Thema mal so cool umgehen kann wie die anderen betroffenen Leute. Aber ich weiß, dass es noch ewig dauern wird. Ich nickte unauffällig. „Ja, ausziehen!“ kam es von Simone und Cathleen wie aus einem Mund.
Bitte was?! Ihr wollt dass ich was mache? Simone und Cathleen nickten beide auf meinen ungläubigen Blick. „Die musst du ausziehen, sonst scheuerst du dir alles wund.“ Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Mir war eher zum Weinen zumute. Nö, das wurde mir zu intim. Jetzt fing auch noch die Mutter an: „Ernsthaft jetzt. Das
schnürt sich vorne am Oberschenkel richtig in die Haut ein, wenn du Pech hast. Die musst du ausziehen.“
Das traf mich so unvorbereitet, dass ich nicht mehr wusste, was ich tun sollte. Ich war wie gelähmt. Ausnahmsweise nicht mal nur in den Beinen. Ich krallte mir Cathleen und rollte ein Stück von der Gruppe weg, die mich beobachtete. Einzelne Tränen kullerten über meine Wangen. Auf die Situation hatte mich niemand vorbereitet. Ich bin noch nicht mal 24 Stunden aus der Klinik und schon war ich angekommen an meinem ersten
schwerwiegenden Alltagsproblem. „Wie soll ich das denn machen?“
Cathleen sah erschrocken in mein Gesicht. „Hey! Weinst du?“ In der Dunkelheit war das wohl schlecht zu sehen. Jetzt ging es auch noch richtig los. „Nee“, log ich und wischte mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht. Cathleen nahm mich in den Arm und drückte mich. „Du musst hier nicht mitmachen, wenn dir das noch zu viel ist. Soll ich Tatjana fragen, ob du vom Auto erstmal zuguckst?“
„Nein, ich will ja mitmachen. Aber wie soll ich das denn machen? Ganz ohne irgendeinen Schutz bin ich noch nie irgendwo weit weg vom Klo gewesen. Ich hab das nicht so gut unter Kontrolle!“ Ich weinte immernoch. Was für eine peinliche Vorstellung.
„Du gehst jetzt erstmal auf Klo und wenn wir fertig sind mit dem Training, gehen wir alle duschen“, bestimmte Cathleen. Ich schüttelte den Kopf. „Cathleen! Selbst wenn ich jetzt auf Klo gehe! Wenn unterwegs meine Blase verrückt spielt und ich nichts um habe, mache ich in die Hose!“
„Ja, dann ist das eben so“, erwiderte Cathleen ohne eine Miene zu verziehen. „Oder meinst du, beim Triathlon machst du mal schnell einen Abstecher zu Mc Donalds, kaufst dir da ne Cola und fragst, ob du bei der Gelegenheit mal deren WC benutzen darfst? Ein Fußgänger kann sich schnell in die Hecke hocken, wir können das nicht. Das ist hier Leistungssport, keine Beauty Farm.“
Ich schluckte. Cathleen rollte wieder zu den anderen zurück, ich rollte hinterher. „Mehr als dass du dich hier bis auf die Knochen blamierst, kann dir nicht passieren“, dachte ich mir still. Ohne ein Wort rollte ich zur Toilette. Hinter mir hörte ich Getuschel. Und dann Cathleens Stimme: „Ach nix. Sie geht jetzt nochmal aufs Klo und dann können wir los.“
Yvonne kam mir entgegen. „Nun doch?“ Ohne ein Wort rollte ich an ihr vorbei. Kurz danach war ich dann startbereit. Schuhe aus, dann half Tatjana mir in meinen Rennrollstuhl und lud meinen Alltagsstuhl in den Kleinbus. Dann wurde ich verkabelt, bekam das Ding ins Ohr, setzte mir vorsichtig den Helm auf. Die Aufregung verdrängte die Unsicherheit.
Tatjana stieg auf eine Mini-Leiter und befestigte hinten auf dem Dach des Busses zwei gelbe magnetische Blinklichter. Hinten an der Tür wurde mit Saugfüßen ein Achtungsschild angeklebt, darunter stand: „Straßenrennen“ Okay… Sehr eindrucksvoll. Nur dass das im Dunkeln sowieso keiner sieht, bis auf das Geflacker von den Blinklichtern. Aber immerhin fegt uns so keiner hinterrücks von der Piste. Außer Tatjana verwechselt Gas und Bremse.
Wir fuhren los, anfangs ging es nur steil bergauf. Nach jedem Anschub blieb der Rollstuhl sofort wieder stehen. Und man konnte nur sehr dosiert anschieben, da der Stuhl sonst vorne hochgekommen wäre. Also absoluter Grenzbereich. Doch dann … war das geil! Vor allem konnte ich ohne große Mühe das Tempo mithalten. Die Straßen waren leer, im Lichtkegel des Kleinbusses konnte man genug sehen. Tatjana gab Aileen, die die Gruppe anführte, offenbar über Funk Anweisungen. Mal fuhren wir etwas schneller, mal etwas langsamer. Dann hieß es plötzlich, wir sollten rechts in einer Bushaltestelle stehen bleiben. Dehnübungen waren angesagt. „Braucht noch jemand was?“ fragte Tatjana. Wir hielten direkt vor einer Esso-Tankstelle. Allgemeines Kopfschütteln.
„So, wir fahren bis zur Ampel und danach geben wir Vollgas. 90%, auf die Kurven aufpassen, nicht in den Gegenverkehr geraten. Zügig die Kurven durchfahren, der nachfolgende Verkehr kann nicht überholen.“ Die Anweisung war klar. Wie war das? Der nachfolgende Verkehr kann nicht überholen? Denkste. Mit dröhnendem Motor musste uns ein Mercedes überholen, mitten in einer S-Kurve. Natürlich durch die Gegenspur. Glücklicherweise kam dort keiner, denn ich überlegte schon, ob er dann zum Ausweichen in unsere Gruppe krachen wollte. 30 waren erlaubt, die fuhren wir locker. Egal.
Erste Erfahrungen hatte ich mit einem Rennrollstuhl schon beim Trainingslager und vorher beim Training auf dem Sportplatz gemacht, aber Straßentraining ist nochmal was ganz anderes. Vor allem unterschätzt man den ziemlich langen Bremsweg. Und wenn man durch Lenken wenden wollte, bräuchte man wohl einen ganzen Marktplatz.
Nach einigem auf und ab befuhren wir nun ein schnurgerade und breit ausgebautes Stück der Elbchaussee. „Der erste gibt jetzt so etwa 80%, der letzte überholt jeweils die Gruppe. Und schert erst aus, wenn der erste sich vorne eingegliedert hat.“ Drei Durchgänge. Es machte Spaß, aber ich kam eindeutig an meine Grenzen. Vor allem, wenn es etwas bergauf ging, merkte man, dass ich keine Kondition hatte.
Dann sollten wir das Tempo drosseln, denn wir müssten links abbiegen. Möglichst aus der Fahrt links einordnen und dann ganz langsam abbiegen, das ist eine tückische … huch … tatsächlich … tückische Kurve. Halbmondsweg? Vor lauter Wolken war irgendwie gar kein Mond zu sehen. Aber wenigstens regnete es nicht. Und es war angenehm kühl, allerdings nicht zu kalt. Die Straße war hell erleuchtet, nur ganz vereinzelt fuhr mal ein Auto.
Dann kam wieder eine Strecke, bei der Autos nicht überholen konnten. Hier war 50, wir fuhren knapp 40, schneller war nicht möglich, da wir über mehrere Ampeln mussten und wir den Bremsweg einkalkulieren mussten.
Natürlich fing der einzige Autofahrer, der sich hinter dem Bus einfand, das Hupen an. An der Kreuzung Ebertallee / Osdorfer Weg mussten wir bei Rot anhalten. Der Fahrer hielt neben uns und pöbelte: „Ihr haltet hier den ganzen Betrieb auf mit Eurem Scheiß.“ Ja nee, ist klar. Na klar ist das nervig, wenn man mal zwei Minuten nur 40 fahren kann statt 50. Da keiner der anderen reagierte, ignorierte ich den Typen auch.
Ich musste mal. Ich verdrängte den Gedanken. Vielleicht war es auch nur die komische Sitzposition, die dieses Gefühl auslöste. So richtig spüre ich das ja sowieso nicht. Ich wusste nicht, wohin wir wollten, aber allzu weit konnte es nicht mehr sein. Grün. Es ging weiter. Einige Schlaglöcher, die man umfahren musste, dann wurde es wieder zweispurig. „Bremsen, bremsen, bremsen!“ funkte uns Tatjana ins Ohr. Von rechts kam ein Rettungswagen mit Blaulicht. Uuuups, quietsch, qualm, radier, stink, … der hat eindeutig Vorfahrt. Bitteschöööön… Wir mussten relativ scharf abbremsen, sofern man bei diesen unmöglichen Bremswegen überhaupt von Schärfe sprechen kann.
Vorbei an einem Friedhof und dem Volkspark (ziemlich gruselig im Dunkeln) fuhren wir in die Richtung einer Sporthalle. „Langsam ausfahren, lockern, strecken“, war das Kommando. Inzwischen wurde es hell am Horizont. Die Vögel trällerten aus voller Kehle ihre Lieder. Die Luft roch angenehm nach feuchtem Waldboden. Ich war völlig fertig. Aber glücklich. Glücklich fertig.
„Für den Anfang schon ganz gut“, meinte Tatjana. Nun ging es direkt zum Duschen. Wir fuhren über relativ unwegsames Gelände zu einer offenen Stahltür in einer weißen Wand der Halle. Dort stand bereits ein Duschrollstuhl. Zusammen mit dem Trainer der beiden Top-Athleten, der bereits wartete, stieg einer nach dem anderen aus dem Rennrollstuhl in den Duschrollstuhl, wurde reingeschoben und musste sich drinnen umsetzen. Dort gab es zwei feste Klappsitze und mehrere Gartenstühle, die einfach unter die anderen Duschen gestellt waren.
Ich zog meine Klamotten aus und warf sie direkt ins nächste Waschbecken. Endlich duschen! Haare waschen! Gesicht waschen! Ich hatte mir mehrmals den Schweiß aus dem Gesicht gewischt und das mit den dreckigen Händen. Wir sahen aus wie die Indianer. „Und? War gut?“ fragte mich Cathleen. Ich nickte. War gut. Erfahrung und Kondition wird am Anfang niemand ernsthaft von mir verlangen. Alles andere war wohl nicht zu unterirdisch.
Yvonne wurde zur S-Bahn gebracht, Simone wurde von ihrer Mutter abholt. Cathleen fragte, ob sie spontan bei mir schlafen könnte. Gerne, warum nicht?! Und die Rennrollis? Die bleiben erstmal in einem Lagerraum stehen und kommen Montag kurz unter den Hochdruckreiniger. Der Hausmeister kümmert sich drum. Außer bei Simone: Den hat der Vater gleich wieder eingesammelt und mitgenommen.
Kurz nach 6 fielen wir in mein Bett. Ziemlich genau 20 km sind wir gefahren in etwa einer Stunde. Mit Ampeln und Pause zum Dehnen. Nicht schlecht. Die Strecke habe ich mal einzeichnen lassen:
Nun habe ich Hamburgs Straßen bei Nacht kennen gelernt. Beim nächsten Straßentraining bin ich wieder dabei. Wenn ich darf.