Ein ehrenwertes Haus

Ich wohne wirklich sehr gerne hier. Meine Leute in der WG sind sehr nett, die Wohnung ist schön, mein Zimmer, das Haus ist neu und liegt zentral – ich bin sehr glücklich. Gestern abend haben wir auf dem Balkon gegrillt, damit es nicht so qualmt zwar mit einem Elektrogrill, aber es war super. Lina und ich haben Salate gemacht, Sofie hat Brot eingekauft, das Wetter war einigermaßen gut, die Stimmung lustig.

Wir waren gerade mit dem Essen fertig, ich war einigermaßen genudelt, als es an der Tür bimmelte. Es war eine Nachbarin, die reinkommen und mit uns reden wollte. Wir baten ihr an, mit uns rauszukommen und ihr noch eine Wurst auf den Grill zu legen. Ich dachte erst, sie wollte sich über den Essensgeruch vom Grillen beschweren, aber sie hatte andere Gründe.

Sie erzählte uns, dass sie früher in der DDR gewohnt hätte und dort mit einem Mann zusammen war, der für die Stasi gearbeitet hat. Das wusste sie am Anfang nicht, später hätte sie sich von ihm getrennt. Seitdem hätte sie eine absolute Allergie gegen alle Schnüffler, Spitzel, Denunzianten und ähnliche Leute. Ich dachte leise: „Ja nee, ist klar, und warum erzählst du uns das jetzt?“ Luisa tauschte sich mit mir ein paar genervte Blicke aus.

Doch dann kam es: Ein Nachbar, Mitte 40, dauer-arbeitslos, hellblonde Haare, sportliche Figur, etwa 170 cm groß, läuft immer mit Holzfällerhemd, blauer Jeans mit Hosenträgern und weißen Turnschuhen durch die Gegend, hat am Gürtel jeweils eine Tasche für das Handy und ein Taschenmesser sowie eine Schlüsselkette mit 3 Dutzend Schlüsseln installiert und tritt gerne als hilfsbereiter Nachbar auf, beobachte unsere WG angeblich. Angeblich habe sie sich mit einer anderen Nachbarin auf der Straße unterhalten, dabei sei das Thema auf unsere WG gekommen.
Man hätte sich ausgetauscht, auch wenn wir das jetzt nicht hören wollten, dass es so toll sei, dass man inzwischen behindertengerecht bauen müsste und so endlich auch mal Menschen mit Behinderung eine ganz normale Wohnung in ganz normalem Umfeld bekommen können. Da sei dieser besagte Nachbar angeblich dazu gekommen und hätte gesagt, dass er uns beobachte. Er hätte den Verdacht, dass es sich bei uns um ein Sozialprojekt handeln würde und wir alle kriminell seien und man sich vor uns in acht nehmen müsse. Er beobachte uns schon seit langer Zeit und führe genau Buch. Außerdem habe er einen alten Lieferwagen, von dem aus er uns mit dem Fernglas beobachten würde.

„Das ist aber ziemlich unprofessionell, wenn er jedem erzählt, was genau er macht“, sagte Frank. „Ist er denn schon zu irgendwelchen Erkenntnissen gelangt?“ Die Nachbarin nickte. „Es soll sich bei euch um ein Resozialisierungsprogramm handeln. Ihr hättet alle schwere Straftaten begangen, einige von euch sollen dabei schwer verletzt worden sein, das hätte man hier gebündelt, weil die Wohnung rollstuhlgerecht ist. Solche Wohngruppen gebe es ganz häufig, nur sind die meisten nicht rollstuhlgerecht. Das erklärt halt, warum hier so viele Rollstuhlfahrer sind. Ihr seid alle im offenen Vollzug.“

„Das hat er wirklich so gesagt?“ Sofie guckte entsetzt. Die Nachbarin fügte hinzu: „Es kommen jede Woche diverse Bewährungshelfer und Bewährungshelferinnen ins Haus. Jeder hat seinen eigenen. Bei einer steht es sogar auf dem Auto drauf, meint er. Und er beobachte, dass man hier weiterhin kriminellen Dingen nachgehe. Es kämen Drogenkuriere ins Haus, ihr würdet ohne Führerschein Auto fahren, mitten in der Nacht auf Beutetour gehen. Das Problem ist, dass die Leute ihm glauben. Die Nachbarin, die sich erst gefreut hat, dass ihr hier die Wohnung bekommen habt, sagte gleich: ‚Es wäre ja auch zu schön gewesen.‘, ließ mich stehen und ging weiter. Ich wollte euch das nur mitteilen, denn sonst seid ihr vermutlich die letzten, die erfahren, warum niemand mehr grüßt.“

Starker Tobak. Der Typ hat entweder ziemliche Langeweile oder ist irgendwie krank. Normal ist das jedenfalls nicht. Frank ist Jurist und meinte, er überlegt sich in den nächsten drei Tagen, was am besten hilft: Mit den Tatsachen konfrontieren und dabei den Kopf waschen, Unterlassungserklärung unterschreiben lassen oder gleich anzeigen. Er hat uns geraten, erstmal nichts zu erzählen, sondern nur kurz auf konkrete Fragen zu antworten, wenn uns jemand irgendwas fragt.

Frank hat sich erstmal bei der Nachbarin für die Information bedankt. Es kann natürlich auch sein, dass die spinnt. Oder krank ist. Sie hat erstmal keine weiteren Informationen bekommen, hat aber auch nicht weiter gefragt.

Dass das WG-Leben aufregend werden kann, wusste ich. Aber dass es sooo aufregend wird, nicht. Unglaublich.

Ich habe morgen einen Termin mit meiner Sozialtherapeutin. Der werde ich das auf jeden Fall erzählen und auch gleich mal nachschauen, ob da wirklich was von Bewährungshilfe auf dem Auto steht. Dann würde ich dagegen nämlich erstmal protestieren.

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