Fünf Minuten Erziehungsberatung

Ich war gleich skeptisch, als meine Mutter mir überfallartig vorschlug, mit meinen Eltern zu einem Termin in eine Beratungsstelle zu gehen, vor allem, weil es sich um eine Erziehungsberatungsstelle handelt und unsere Probleme ja nicht direkt etwas mit der Erziehung zu tun haben. Aber ich wollte mich nicht verschließen, wenn meine Eltern sich Hilfe suchen und mir wieder ein Stückchen näher kommen möchten. Wie man so ein Beratungsangebot nun nennt oder unter welchem Stichwort man es anbietet, um vielleicht einigen Eltern den Gang dorthin leichter zu machen, spielt ja erstmal keine Rolle.

Also schnappte ich mir an meiner Bushaltestelle (3 Minuten Fußweg von meiner Haustür) einen Schnellbus, der nach 12 Minuten Fahrtzeit genau vor dieser Erziehungsberatungsstelle hält, ohne zu wissen, dass ich damit gleich schon wieder den ersten Fehler begangen hatte.

Diese Beratungsstelle liegt an einer vierspurigen Straße ohne Parkplätze. Weiter als die Bushaltestelle entfernt gibt es ein Parkhaus, für das man bezahlen müsste. Den Bus kann ich kostenlos nutzen, er fährt exakt 12 Minuten. Mit dem Auto dürfte ich nur zur Therapie fahren, ob das aber Therapie ist, weiß ich nicht genau. Also lasse ich es sein und fahre mit dem Bus. Grund genug, um mir von meiner Mutter anhören zu müssen, dass ich nicht ehrlich bin.

Bitte?! Was ist daran unehrlich, mit dem öffentlichen Bus zu fahren bei so einer Verbindung? Antwort: Ich täusche meine Umwelt über mein wahres Ich! Ich drehe mir alles so, wie ich glaube, dass es nach außen am besten wirkt. Ja nee, ist klar.

Für mich macht es keinen Unterschied, ob ich mit dem Auto oder mit dem Bus fahre. Ich hatte, als ich mich entschieden hatte, den Bus zu nehmen, keine Hintergedanken. Ich kann auch beim besten Willen nicht nachvollziehen, was sie genau meint. Ich kann mir nur vorstellen, dass es irgendwie in die Richtung geht, dass es ja umständlicher ist, mit dem Bus zu fahren als mit dem Auto und ich jetzt betonen will, welche Umstände ich für meine Eltern auf mich nehme. So oder ähnlich. Da sieht man aber mal, wie wenig sie sich mit meiner neuen Lebenssituation arrangiert haben, denn sonst wüssten sie, dass Busfahren nichts ist, was
irgendwie erwähnt werden müsste.

Egal. Im Haus gab es einen Aufzug, es musste also niemand helfen. Oben angekommen, begrüßte uns ein Typ, der die Vertretung für den Sozialarbeiter macht, der uns eigentlich beraten wollte, sich aber heute krank gemeldet hatte. Er sei der Leiter der Einrichtung und Diplom-Psychologe, hatte einen östlichen Dialekt und … ach dieses Bild stammt von deren Webseite:

Immerhin gab er mir die Hand, im Gegensatz zu meinen Eltern, die nur „Hallo“ zu mir sagten. Er meinte, er freut sich, dass das geklappt hat. Dann sagte er zu mir, dass es schon Vorgespräche mit meinen Eltern gegeben hat, und dieses Treffen einfach nur dazu diene, dass er sich von mir ein Bild machen könnte und auch das alles, was sich so bei uns in der Familie abspiele, mal aus meiner Sicht geschildert werden könnte. Aus Sicht meiner Eltern sei ich ja so etwas wie ein „Problemkind“.

Da der Typ mir grenzenlos unsympathisch war, reagierte ich auf diesen Versuch, mich aus der Reserve zu locken, nicht, sondern gab nur ein bedeutungsloses „Hmm“ von mir.

Er fragte: „Wie sehen Sie sich denn innerhalb Ihrer Familie? Sehen Sie sich auch als Problemkind?“ Ich antwortete mit einer indirekten Frage: „Das hängt ja ein bißchen davon ab, wie man ‚Problemkind‘ definieren möchte.“ Er gab die Frage sofort zurück: „Wie definieren Sie denn ‚Problemkind‘? Was könnten Ihre Eltern damit meinen?“

Ich antwortete: „Ja, warum fragen Sie meine Eltern das nicht selbst? Ich habe das Wort nicht ins Spiel gebracht.“ Jetzt hatte ich ihn endlich soweit: „Naja, das ist ja auch kein Spiel, was wir hier machen. Ich hatte Ihnen ja eingangs erläutert, dass es um Ihre Sicht der Dinge gehen soll und ich möchte Ihnen Gelegenheit geben, sie hier darzustellen.“

Der Typ roch aus dem Mund nach Nikotin und Kaffee. Gut. Also. „Ich hatte einen Unfall und sitze seitdem im Rollstuhl. Ich war ein Jahr stationär im Krankenhaus zur Akutbehandlung und zur Reha. Meine Eltern haben sich aus dieser Therapie komplett herausgehalten, und so kommt es, dass ich mich inzwischen mit meiner Lebenssituation mehr auseinander gesetzt habe als meine Eltern, die immernoch mit ihren Vorurteilen und Berührungsängsten beschäftigt sind.“

„Das klingt für mich so, als wenn Sie sehr wütend auf Ihre Eltern sind.“ Gähn! Ein Jahr Psychotherapie bei einer brillianten Psychologin, die selbst durch einen Unfall im Rollstuhl sitzt, haben ihre Spuren hinterlassen. „Ich versuche, meine Sicht der Dinge darzustellen.“

„Dann frage ich etwas konkreter: Sehen Sie Ihre Eltern in der Verantwortung, dass das Verhältnis zwischen Ihnen und Ihren Eltern im letzten Jahr so -sagen wir mal- abgekühlt ist?“ Natürlich sehe ich sie in der Verantwortung. Aber bevor er sich das einfach macht, so nach dem Motto: ‚Sehen Sie, Ihre Eltern und Sie schieben sich gegenseitig die Verantwortung zu, anstatt aufeinander zuzugehen und vergangenes zu vergessen‘ oder so ähnlich, begann es mir Spaß zu machen, ihn aus dem Konzept zu bringen. Also sagte ich: „Nein.“

Meine Rechnung ging auf. „Nein???“ fragte er, völlig irritiert. „Nein“, wiederholte ich. Mein Vater änderte die Sitzposition. „Was denken Sie, woran es liegt, dass sich das Verhältnis so abgekühlt hat? Sehen Sie sich selbst in der Verantwortung? Oder hat sich das Verhältnis aus Ihrer Sicht nicht abgekühlt?“

Zwei Fragen auf einmal! „Das Verhältnis ist eindeutig ein anderes, nur glaube ich nicht, dass die Verantwortung hierfür bei mir oder bei meinen Eltern liegt. Ich denke, dass sich meine Lebensumstände gravierend verändert haben und das ganz einfach mit sich bringt, dass man sich komplett neu orientiert. In jeglicher Hinsicht.“

„Nun ist es ja aber so, dass man nicht alles neu machen kann. Ihre Eltern bleiben ein Leben lang Ihre Eltern, egal wie oft Sie sich neu orientieren. Neue Eltern werden sie nicht bekommen.“ Meine Mutter fing an zu heulen. Der Typ reichte ihr eine Box mit Taschentüchern. Wie im Fernsehen. „Es ging doch um das abgekühlte Verhältnis! Und nicht darum, Personen auszutauschen. Meine Eltern bleiben ein Leben lang meine Eltern. Die zentrale Frage ist doch, wie eng die Beziehung untereinander sein muss oder sein darf, damit sie uns beiden gut tut.“

„Das ist ein schöner Satz!“ kommentierte er. Er stammt ja auch aus dem Mund meiner Psychologin, aber ich sehe es genauso. „Ich habe den Eindruck, dass es besser ist, sowohl für meine Eltern als auch für mich,
wenn die Beziehung nicht zu eng ist. Ich habe das Gefühl, dass meine Eltern noch wesentlich länger brauchen werden, um mit meiner neuen Lebenssituation klar zu kommen. Mein Vater versucht immernoch, sie zu ändern, obwohl er eigentlich wissen müsste, dass an meiner Querschnittlähmung nichts zu ändern ist.“ Nun biss auch er sich noch auf die zitternde Unterlippe. Das hab ich ja noch nie gesehen.

„Sie haben eine Querschnitzlähmung, richtig?“ fragte der Psychologe dumm. „Ja, das sagte ich gerade“, antwortete ich. „Daher fände ich es auch am besten, wenn meine Eltern die Therapieangebote des Krankenhauses, in dem ich behandelt wurde, nutzen würden, da die darauf spezialisiert sind.“

„Ihre Eltern sind in erster Linie hier, um das Verhältnis wieder etwas zu intensivieren. Hierfür möchte ich Ihren Eltern gerne die Hand reichen.“ Was? Meinen Eltern die Hand reichen, um von außen in das einzugreifen, was ich mit meiner Psychologin in mühevoller und quälender Arbeit geschaffen habe? Dass ich einigermaßen stabil in den Alltag entlassen werde, ohne die Hilfe meiner Eltern, obwohl es mit ihnen vermutlich deutlich einfacher gewesen wäre? Sie waren doch diejenigen, die sich dagegen mit Händen und Füßen gewehrt haben und die im Krankenhaus alle möglichen Leute zur Verzweiflung gebracht haben mit ihrem Starrsinn.

„Ich sehe dafür nur eine Möglichkeit: Eine Therapie in dem Krankenhaus, in dem ich behandelt wurde. Erstmal alleine, später zu dritt. Die Türen sind dort seit einem Jahr offen. An einer Therapie hier in einer Erziehungsberatungsstelle werde ich mich nicht beteiligen. Davon hat mir meine Psychologin abgeraten.“ Stimmt zwar nicht, aber ich bin mir sicher, sie würde es tun, wenn ich sie fragen würde. Selbst die Sozialarbeiterin Frau W., mit der ich über diesen Termin gesprochen hatte, sagte, dass ein Termin nicht schaden könne, man dann aber weitersehen und neu beurteilen müsse.

„Wer ist dort Ihre Psychologin?“ fragte er. „Sie wird Sie anrufen“, erwiderte ich. Löste meine Bremsen, verabschiedete mich von ihm, sagte meinen Eltern ‚tschüss‘ und fuhr raus. Ich war froh, als die Tür hinter mir zu war. Die Sache hatte keine 10 Minuten gedauert. Auf dem Weg zurück war ich so durcheinander, dass es gut war, dass ich nicht mit dem Auto gefahren bin. Auch wenn ich so meine Umwelt über mein wahres Ich getäuscht haben könnte.

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