Dass Luisa zum 1. September wieder auszieht, hat sich spätestens seit meinem Post vom 11.08.09 auch außerhalb unserer WG herumgesprochen. Die sehr bedauerlichen und für mich auch eher inakzeptablen Gründe dazu auch. An wen wir das frei werdende Zimmer vergeben wollen, also auf welchen neuen Mitbewohner oder auf welche neue Mitbewohnerin wir uns einigen, eher nicht. Wir wissen es schließlich selbst noch nicht.
Der Vermieter möchte natürlich keine Leerstände, deshalb waren bereits vier Leute hier und haben sich das Zimmer angesehen. Zwei Leuten war es zu klein, ein Rollstuhlfahrer Anfang 20 wirkte nicht etwa wegen des Vollbartes sehr ungepflegt (sondern eher wegen des fetten Zahnbelags und den schmierigen Brillengläsern), eine Rollstuhlfahrerin Anfang 20 war uns schlicht und einfach zu doof.
Natürlich wäre allen geholfen, insbesondere Luisa, wenn sich schon zum 1. September ein Nachmieter finden würde, aber es muss eben auch passen. Gestern fragte mich Cathleen, ob sie mal eine ganz dumme Frage stellen dürfte. Ich weiß inzwischen, dass sie damit Fragen ankündigt, bei denen sie nicht weiß, ob sie ausverschämt sein könnten. Ich habe mit allem möglichen gerechnet, nur nicht mit der Frage, ob sie eine Chance hätte, bei uns einzuziehen.
Ernsthaft darüber nachgedacht hatte wohl bisher niemand, da sie in ihrem Internat wohnt, dort (nämlich 90 Kilometer von hier) zur Schule geht, gerade 15 Jahre alt ist, aus einer Familie kommt, bei der nicht alles einfach ist und vor allem noch nie alleine gewohnt hat, nicht einmal probeweise. Das hätte man allerdings in den Sommerferien prima machen können, wenn man ernsthaft mit dem Gedanken spielt. Mein erster lauter Gedanke dazu war: „Meinst du, dass deine Eltern dem überhaupt zustimmen würden?“
Sie wusste es nicht. Sie hatte nicht gefragt, weil sie nicht einschätzen kann, ob sie bei uns überhaupt eine Chance hätte. Meinetwegen könnte sie natürlich sofort einziehen. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass die anderen etwas dagegen hätten. Einigen wäre es vielleicht egal. Aber das Problem wird sein, dass sie minderjährig ist,
das Internat vom Sozialamt bezahlt wird, sie dort zum Teil gepflegt wird, sie dort Psychotherapie bekommt (nachdem sie vor einem Jahr mal eine Depression hatte, und zwar eine richtige, mit der sie auch in einer
Klinik war), dass sie hier in Hamburg keine Schule kennt, auf die sie gehen könnte und vor allem: Dass völlig unsicher ist, ob sie das so (oder mit einer Betreuung, wie ich sie bekomme) hinbekommen würde. Sie hätte dort ihre Leute, die sie kennt, sie hätte hier erstmal nur die WG. Was, wenn das nicht klappen würde, sie keine neuen Freunde findet?
Immerhin war ihr Gedanke aber so ernst, dass wir beschlossen, Sofie und Frank davon zu erzählen. Sofie hatte sofort die gleichen Bedenken wie ich. Frank war etwas entspannter: „Wenn man das wirklich will, wird sich kein Sozialamt und keine Schule dagegen stemmen. Nicht mehr in Klasse 10. Nach dem, was ich bisher mitgekriegt habe, bist du da ja auch nicht so glücklich.“ Das stimmt schon: Vor kurzem hat Frank eine Beschwerde an das Schleswig-Holsteinische Sozialministerium geschickt, da Cathleen kein Taschengeld bekam. Sie darf das Haus nicht verlassen, darf sich ihren Hausarzt und Frauenarzt nicht frei aussuchen, bekommt die falschen Pampers vom Internat einfach vorgesetzt, ohne dass sie daran was ändern kann – und geht letztlich mit Leuten in eine Klasse, die nur vom Jahrgang zusammenpassen, aber nicht von den Fähigkeiten. Einer in ihrer Klasse bekommt angeblich nicht mal den Satz „Ich habe Hunger“ in der richtigen Reihenfolge zusammen. Was sich nach dem Sommer allerdings geändert haben dürfte, denn der wird den Hauptschulabschluss nicht geschafft haben.
Wir redeten einige Zeit darüber und mehr und mehr stellte sich heraus, dass Cathleen mehr als nur einen Gedanken daran gehabt hat. Sie hat sich diese „ganz dumme“ Frage sehr genau überlegt und durchdacht. Am
Ende sagte Frank, dass wir auf jeden Fall die Zustimmung der Mutter brauchen. Er würde mit ihr reden, wenn Cathleen das möchte. Und Cathleen wollte das. Und Frank griff zum Telefon. Cathleens Mutter kannte ihn ja
bereits von der Taschengeld-Aktion. Und das Gespräch war unerwartet sachlich: Wo Cathleen zur Schule geht, sei ihr völlig egal. Wenn sich in unserer WG eine Betreuung sicherstellen lässt, sei auch das für sie denkbar. Aber: Sie werde keinen Finger rühren, was irgendwelche Anträge bei Behörden angeht. Sie sei froh, dass sie das alles erledigt hat. Sie wolle darüber schlafen und wenn ihr dabei nicht noch irgendwas wichtiges einfiele, werde sie auch nicht im Wege stehen, aber sie werde auch keine Energie mehr in das Thema stecken und irgendwelche Leute von irgendwas überzeugen.
Wir hatten uns für heute mittag erneut verabredet: Cathleen, Sofie, Frank und ich. Liam und Lina stehen der Sache wie erwartet völlig neutral gegenüber. Cathleen sagte, dass weder ihre Mutter noch ihr Stiefvater, bei denen sie zur Zeit zu Besuch ist, das Thema angeschnitten hatte. Bevor sie zu uns fuhr, hat sie ihre Mutter gefragt, ob das, was sie am Telefon gesagt hat, noch gilt. Daraufhin habe sie erwidert: „Ich weiß zwar nicht, warum der Typ jetzt so einen Wirbel macht, aber ich stehe zu dem, was ich gesagt habe. Ich zwinge dich nicht, auf das Internat zu gehen, wenn du woanders genauso betreut wirst.“ Cathleen wusste natürlich, warum Frank so einen Wirbel macht: Sie hatte ihn ja darum gebeten. Und das hatte Frank eigentlich auch gesagt im Telefonat.
Cathleen, Sofie und ich besuchten einen Mitarbeiter vom Gesundheitsamt, von der Beratungsstelle für behinderte Menschen. Der Mann war blind. Er war sehr nett und ich hatte den Eindruck, ihm machte seine Arbeit Spaß. Es lief am Ende alles auf eine Sache hinaus: Die Entscheidung treffen die Eltern. Es wäre für ihn leicht, dem Sozialamt zu begründen, dass es keinen Pflegesatz von 3.500 Euro im Monat mehr zahlen muss, sondern nur noch rund 400 Euro Miete plus paar Euro zum Leben und eine ambulante Betreuerin, die einmal pro Tag oder einmal alle
zwei Tage nach dem Rechten sieht. Aber er braucht dafür auch ein Gutachten, aus dem sich ergibt, dass diese Förderung einen Sinn macht. Es muss jemand abschätzen, ob Cathleen dort zurecht kommen wird, ob sie in der neuen Schule integriert wird, ob die Betreuung einmal pro Tag oder einmal alle zwei Tage ausreicht – dann stünde dem nichts im Wege.
Er gab uns den Tipp, Cathleen in den Herbstferien eine Woche zur Probe wohnen zu lassen. Jetzt erst merkte ich, wie sehr sich Cathleen darauf bereits fixiert hatte. Sie war kurz vorm Weinen. „Wenn ich jetzt erst wieder in Schleswig-Holstein zur Schule gehe, verpasse ich doch hier den Anschluss.“
Blinde Menschen haben ja ein besonderes Gespür für die Stimme des Gegenüber. „Du hast es dir fest vorgenommen, oder? Du willst es schaffen.“ Cathleen nickte. Was der Mann nicht sehen konnte. Aber wohl fühlen – ich weiß es nicht. Er griff zum Telefon. Cathleen hat am Donnerstag – an meinem ersten Schultag, an ihrem viertletzten Ferientag – einen Termin bei einem Sozialpädagogen, der ein entsprechendes Gutachten schreiben soll. Sofie wird Cathleen zu diesem Termin begleiten.
Ich würde mich sehr freuen, wenn Cathleen bei uns einzieht. Vorausgesetzt, sie schafft, was sie sich vornimmt und wir alle werden und bleiben glücklich dabei. Aber ich bin sehr skeptisch, dass sie den Sozialarbeiter davon überzeugen kann, ihr eine solche Empfehlung zu schreiben. Und die bräuchte sie. Sehr skeptisch.