Appelle an mein Gewissen

Eigentlich, dachte ich, habe ich mein Leben im Moment recht gut im Griff. Bei meiner Entlassung aus dem Krankenhaus fragte man mich, ob ich mich innerlich ruhig und ausgeglichen fühle. Ich habe das bejaht. Ernsthaft bejaht.

Das klappt immer so lange, bis jemand zu aufdringlich wird. Ich schaffe es nicht, mir aufdringliche Menschen vom Hals zu halten. Ich mag keinen Streit. Aber er wäre nötig. Es wäre das nötig, was die ältere Generation „frech“ nennt.

Genau um diese ältere Generation geht es auch: Um 14 Uhr hat sich meine Tante, die mit der Currywurst,
unangemeldet bei mir blicken lassen. Sie stand plötzlich vor der Tür und wollte mich dazu überreden, wieder engeren Kontakt zu meinen Eltern und vor allem zu meinen Großeltern aufzubauen. Nicht mal zu meinem Geburtstag melde ich mich bei ihnen.

Eine halbe Stunde lang hat mir meine Tante ein schlechtes Gewissen eingeredet. Mir sogar gedroht, dass meine Eltern mich aus dieser WG nehmen würden, wenn ich nicht ein wenig kooperiere. Etliche Male habe ich sie gebeten, zu gehen, aber sie hörte einfach nicht, sondern machte immer weiter. Als sie mich endlich soweit hatte, dass ich heulte, meinte sie: „Ich denke, jetzt ist der Knoten geplatzt. Am besten greifst du gleich zum Telefon und entschuldigst dich bei deinen Großeltern.“

Am Ende bin ich heulend zu Sofie geflüchtet und habe sie um Hilfe gebeten. Während ich in ihrem Zimmer wartete, hat sie mit meiner Tante geredet und sie gebeten, zu gehen.

Das hat funktioniert. Aber schlechter, als ich gehofft hatte. Während ich darüber grübelte, ob meine Eltern, meine Großeltern und meine Tante sich durch mich zurückgestoßen fühlen könnten und ich merkte, dass ich weder eine Antwort auf die Frage weiß noch alleine eine Lösung finde, die mein eingeredetes schlechtes Gewissen bereinigt, klingelten meine Großeltern an der Tür. Ich habe sie sehr lange nicht mehr gesehen und ein bißchen freute ich mich, sie zu sehen.

Aber der Besuch war einfach nur grausam. Natürlich war ich von dem Gebetsmühlen-Gespräch mit meiner Tante noch völlig neben der Spur. Meine Oma sagte, dass meine Tante ihnen berichtet hätte, dass es mir sehr schlecht ginge. Ich würde nur heulen und mich mehr und mehr zurückziehen. Mein Opa meinte daraufhin: „Du musst hier raus. Die ganzen schweren Schicksale hier sind nichts für ein junges Mädchen wie dich. Du musst mit Leuten zusammen sein, die lebensfroh sind und dich aufrichten. Du verkümmerst doch völlig.“

Vielleicht ist es sein Alter. Aber bereits mein Vater hatte nach meiner ersten Sportstunde daran gezweifelt, dass mir behinderte Mitmenschen gut tun. Liegt es in der Familie? Ich habe versucht, meinem Opa zu erklären, dass ich glücklich bin, so wie es jetzt ist, gemessen an dem, was möglich ist. Dass ich von lebensfrohen Leuten umgeben bin, die mir Kraft geben. Er schüttelte den Kopf. Es sei verständlich, dass ich keine Veränderung möchte, weil das unbequem wäre. Ich hätte mich schon viel zu sehr verrannt, deswegen könnte ich nicht mehr über den Tellerrand blicken. Damals nach dem Krieg sehnten sich Leute den Krieg zurück, da sie depressiv geworden waren und dann einen Grund hatten, sich zu verstecken. Die sind daran kaputt gegangen, dass sie wieder aus den Häusern raus mussten.“ Er meinte, ich bräuchte meine Familie und einige Freunde, die mich an ihrem gesunden Leben teilnehmen lassen. Die mit mir mit einem Ruderboot fahren, die mich zum Picknick mitnehmen, …

Sie waren insgesamt vielleicht eine Viertelstunde da. Als sie weg waren, war ich richtig entsetzt darüber, wie weit unsere Wege sich getrennt hatten. Ich habe in meiner heutigen Welt den Halt gefunden, den ich brauche. Und den möchte man mir wegnehmen? Weil ich darunter leide? Weil ich daran kaputt gehe?

Bin ich wirklich so verblendet? Ist es belastend, sein Leben (auch) mit behinderten Menschen zu verbringen? Bin ich depressiv? Muss ich rudern und picknicken? Habe ich den Anschluss verloren an die nächste Generation, an meine Familie? Und wenn ja, brauche ich diesen Anschluss und wozu?

Ich nehme keine Psychopillen. Mir wurden auch keine verordnet. Ich bin überzeugt, dass ich das, was ich empfinde, richtig empfinde. Und nicht durch Medikamente beeinflusst bin. Ich bin glücklich mit den Menschen um mich herum. Sie belasten mich nicht. Viele haben einen Rucksack zu tragen, ja. Na und? Die meisten von ihnen haben das Glück, dass ihre Behinderung nicht fortschreitet und dass sie keine Schmerzen haben. Ich auch. Aber selbst die, wo das anders ist, sind gerne mit mir zusammen und ich bin gerne mit ihnen zusammen.

Vielleicht lebe ich in einer anderen Welt. Das kann schon sein. Wenn wir mit den vielen laufenden Leuten in der S-Bahn sitzen, ist bei uns in der Ecke eindeutig die beste Stimmung. Wenn ich traurig bin, werde ich verstanden und getröstet. Das kannte ich vorher so nicht. Wenn ich anlehnungsbedürftig bin, nimmt mich meine Freundin in den Arm und zeigt mir, dass sie mich lieb hat. Wenn ich so bin, wie ich bin und wie meine Behinderung mich macht, werde ich von meinen Freunden gemocht. Ich denke keinen Moment, dass ich etwas falsch mache im Leben, dass ich gerade sündige oder kurzsichtig bin, ins Verderben rolle oder es andere Dinge gibt, mit denen ich meinen Opa verstehen könnte. Ich bin ratlos.

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