Alle Neune

Heute ist ein merkwürdiger Tag. So viele Neunen, mir wird ganz schwindelig.

Nicht nur, dass heute der Neunte Neunte Zweitausendneun ist, sondern dieses ist, wie ich gerade zufällig bemerkte, auch noch mein neunundneunzigster Post in meinem Blog insgesamt. Allerdings erst das achte Posting im September. Aber dafür hat sich heute mein neunzehnter regelmäßiger Leser in meine Abonnentenliste eingeschrieben. Herzlich willkommen!

Ganz neunmalkluge Leute haben festgestellt, dass heute der 252. Tag des Jahres ist. Die Quersumme dieser Zahl ergibt? Rischtisch: Neun!

Als ich heute morgen um neun Uhr neun und neun Sekunden aufwachte … nein, das geht jetzt zu weit. Das wäre viel zu spät gewesen. Es war ungefähr acht Uhr neunzehn, früh genug, da ich heute erst zur neunten
äh dritten Stunde zur Schule musste, als ich mich, während ich auf dem Bauch liegend langsam wach wurde, über ein komisches Gefühl an meiner Brust wunderte. Ich konnte es nicht eindeutig zuordnen. Es fühlte sich irgendwie … verletzt? Nein. Wund? Nein. Kalt? Auch nicht wirklich. Es fühlte sich merkwürdig an. Komisch halt. Immer wacher werdend, fasste ich mit einer Hand an meine Brust und fühlte etwas feuchtes. Jetzt war ich ganz wach und wusste auch sofort, was los war. Ich schmiss die Decke
und das zum Glück noch trockene Kopfkissen aus dem Bett, drehte mich auf den Rücken und staunte erstmal eine Runde.

Dass ich seit meiner Querschnittlähmung morgens dringender auf Klo muss als vorher, und dass der Weg dorthin einschließlich rübersetzen und
Schlafhose runterziehen jeden Tag ein neues Abenteuer ist, daran habe ich mich bereits gewöhnt. Insoweit bin ich auch froh, nicht mehr bei meinen Eltern zu wohnen und irgendwas erklären zu müssen. Dass ich jedoch gar nicht mehr aus dem Bett komme, bevor die Sauerei los geht, hat eine neue Qualität. Und auch diese Mengen im Schlaf sind nicht normal. War gestern irgendwas besonderes? Party? Zuviel Bier? Omas neunundneunzigster
Geburtstag? So langsam dämmerte es mir: So intensiv ich auch nachdachte, ich konnte mich nicht daran erinnern, gestern abend meine Oxybutynin-Tablette genommen zu haben. Mit fatalen Folgen!

Das passte mir natürlich gar nicht in die Tagesplanung. Duschen wollte ich sowieso, aber das Bett neu beziehen und eine Waschmaschine anstellen – das wird verdammt knapp. Also Frühstück ausfallen lassen und
Vollgas geben. Und vor allem mal lüften! Nach dem Duschen, auf dem Weg zur Waschmaschine, traf ich Sofie. „Willst du jetzt waschen? Die Maschine ist leider belegt.“ Auch das noch. Ich konnte das Zeug unmöglich bis mittags irgendwo liegen und vor sich hin stinken lassen. Aber jemanden fragen, ob er das in die Maschine packt, wollte ich auch nicht. Also zumindest mit dem Laken ins Bad, unter der Dusche erstmal ausspülen und dann heute mittag waschen. Aber wo das dann triefnasse Zeug solange lassen? Im Zimmer wohl kaum, und im Bad sieht es jeder. „Was überlegst du?“ fragte Sofie. „Soll ich deine Wäsche in die Maschine
packen, wenn meine nachher fertig ist?“

Ich schüttelte den Kopf. „Nee, alles gut.“ – „Hast du ins Bett gemacht?“ Oh nein! Ich wurde dunkelrot. Ich hatte das nasse Laken extra so in dem Deckenbezug eingewickelt, dass man es nicht sofort sehen konnte. Sofie sah natürlich meine knallroten Wangen, Ohren und meinen nervösen Blick, grinste, streckte mir die Hand aus und meinte: „Willkommen im Klub.“ Da in der Waschmaschine drehte sich … Bettwäsche. Jetzt musste ich auch grinsen. Das musste am heutigen Datum liegen. „Also leg das vor die Waschmaschine, ich stelle das nachher an“, sagte Sofie.

„Nein, das ist mir unangenehm“, druckste ich weiter.

„Ach jetzt halt die Klappe, pack das Zeug da hin und sieh zu, dass Du
zur Schule kommst.“ Ich liebe Sofies manchmal zu direkte Art. Aber sie wirkt bei mir Wunder. Auf dem Weg zur Schule musste ich mich wirklich schon beeilen. Ich wollte auf gar keinen Fall bei meinem „Lieblingslehrer“, den ich in meiner ersten Stunde haben würde, zu spät kommen. Man muss ihm ja nicht unbedingt eine Steilvorlage für seine dummen Sprüche liefern.

Wer aber denkt, dass er bei mir damit heute schon alle eklige Sachen gelesen hat, kennt noch nicht Kapitel zwei, drei und neun.
Während wir alle in atemberaubender Stille damit beschäftigt waren, eine Aufgabe zu lösen und mein Lieblingslehrer in das heutige Hamburger Abendblatt vertieft war, trat genau die Situation ein, vor der ich ohnehin schon soviel Angst habe: Nein, ich habe es nicht unter Kontrolle, wenn ich pupsen muss. Und das haben natürlich nicht nur neun
Leute, sondern das hat jeder mitgekriegt. Während ich die Luft anhielt und versuchte, mich so unauffällig wie möglich zu verhalten, schaute ich
mit gesenktem Kopf und aus dem Augenwinkel zu meiner Tischnachbarin. Die andere Rollstuhlfahrerin. Ich sah, wie sie sich ein Lachen verkniff und dabei den Mund verzog. Im gleichen Moment stand der Lehrer auf und ging schrittweise in meine Richtung. „Oh nein“, dachte ich. Das Blatt vor mir auf dem Tisch fing an sich zu drehen. Der Typ blieb direkt vor unserem Tisch stehen und sagte im militärischen Tonfall: „Wer war das?“

„Tschuldigung“, murmelte ich. Er wiederholte seine Frage im gleichen Tonfall: „Wer war das?“ Meine Tischnachbarin antwortete im gleichen Tonfall: „Ja, irgendein Arsch wird das schon gewesen sein, ne?“ Er lachte dreckig. „Hähähä, irgendein Arsch, ja. Bedenken Sie künftig, dass
sich Faulgase auch bei Windstille in Räumen ausbreiten. Immerhin tun Sie etwas gegen Ihre Migräne, die ja bekanntermaßen durch atomaren Überdruck im Hirn ausgelöst werden soll. Die Frage ist nur, was erstrebenswerter ist: Ein Krankheitsfall wegen Migräne oder 23 Krankheitsfälle wegen einer Methanvergiftung. Also gehen Sie künftig gefälligst auf Klo, wenn Sie kacken müssen!“

„Jawohl“, antwortete ich deutlich für alle hörbar und nahm mir vor, bei der nächsten Ansprache dieser Art darauf zu beharren, dass er mir nur verboten hat, im Unterricht zu defäkieren. Immerhin wussten nun alle, dass ich die Verursacherin war. Als er wieder zu seinem Tisch zurückging, bedankte ich mich bei meiner Tischnachbarin. Die grinste nur.

Im zweiten Unterrichtsblock für heute glaubte ich noch an ein Déjà-vu-Erlebnis, allerdings reagierte der Lehrer im ersten Moment nicht
darauf. Dafür aber eine Mitschülerin, die noch nie irgendwas mit mir zu
tun hatte. „Oah, Alder, kann die da hinten mal mit dem Gefurze aufhören? Das ist jawohl voll eklig, ey! Wir sind doch hier nicht aufm Bauernhof. Echt ey!“ Einige lachten. „Ist doch wahr, Mann. Wenn das in der zweiten Woche schon so los geht, ey.“ Bevor ich darauf etwas erwidern konnte, sagte der Lehrer: „Shirin, sowas kann auch mal aus Versehen passieren.“ – „Nee Mann, vorhin hat die das auch schonmal gemacht, ey!“ – „Shirin, gehen Sie davon aus, dass es Umstände gibt, bei
denen man das nicht unter Kontrolle hat, auch wenn einige das gerne anders hätten, allen voran sicherlich der oder die Betroffene. Wenn Sie es für nötig halten, öffnen Sie das Fenster, aber solche Sprüche möchte ich nicht hören.“

Dann fragte sie wie ein vierjähriges Kind: „Hast du das nicht unter Kontrolle? Ehrlich? Das ist ja krass.“ – „Shirin, ich möchte Sie nach der Stunde mal unter vier Augen sprechen.“ Ohne Luft zu holen fuhr er mit dem Unterricht fort. Ich weiß nicht, was er ihr gesagt hat, aber nach der Stunde kam Shirin zu mir, streckte mir die Hand entgegen und entschuldigte sich. Ob freiwillig oder gezwungenermaßen konnte ich nicht
erkennen, aber die Geste fand ich schon gut.

Fehlt noch Kapitel neun. Okay. Kapitel Neun: Am Nachmittag sind Sofie, Frank und ich zu Luisa gefahren, um sie in ihrer neuen
Wohnung zu besuchen. Sie hat eine, wie ich finde, sehr schöne Wohnung gefunden. Allerdings ist alleine wohnen etwas völlig anderes als eine WG, sagte sie mehrmals. Ich finde es bescheuert, wenn jemand, der eigentlich in einer WG wohnen möchte, wegen seiner Behinderung gezwungen
wird, alleine zu wohnen. Aber insgesamt trägt sie es wohl einigermaßen mit Fassung. Und freute sich, mit uns endlich mal wieder Phase 10 spielen zu können. Natürlich hörten wir nicht bei Phase Neun auf.

Damit endet Kapitel Neun und mit ihm auch mein heutiges neunundneunzigstes
Blogposting. Ich muss mir ja für mein 100. Posting auch noch was aufsparen. Hattest du jetzt etwa gedacht, da kommt noch mehr Schweinkram? Nee, irgendwann ist auch mal gut damit. Schließlich darf ich das Niveau nicht ganz aus den Augen verlieren. Und schließlich hieße
es dann ja auch nicht Kapitel Neun, oder?! Was?! Prost! Auf die Neun!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert