Tod einer Sozialtherapeutin

Seit meiner Entlassung aus dem Krankenhaus hilft mir – bis ich 18 bin – eine Sozialtherapeutin, in ein selbständiges Leben zu finden. Frau W. habe ich zuletzt vor 14 Tagen gesehen, letzten Dienstag fragte mich eine andere Mitarbeiterin der Einrichtung am Telefon, ob ich eine Woche ohne diese Hilfe auskommen würde, da Frau W. krank sei. Selbstverständlich komme ich mal eine Woche ohne Frau W. aus, selbstverständlich auch zwei oder drei. Ich bin ohnehin dafür, diese Besuche zu meinem 18. Geburtstag einzustellen, da ich mich selbstständig genug fühle. Im Gegensatz zu Cathleen, die ihre Sozialtherapeutin (von einer anderen Einrichtung) sehr in Anspruch nimmt, was auch okay ist und wofür sie ja auch bezahlt wird.

Aber zurück zu meiner Frau W. Bei mir stellte sich heute ihre Nachfolgerin vor. Frau S., keine zehn Jahre älter als ich, gerade mit dem Studium fertig und ohne jede Berufserfahrung. Und ohne jedes Feingefühl. Ich bin, was meine Behinderung angeht, sicher nicht zimperlich, aber da ist sie gleich angeeckt. Und als ich sie dann fragte, ob sie mir was zu Frau W. sagen könnte, immerhin hat sie sich noch nicht mal von mir verabschiedet, erwähnte sie nahezu beiläufig, dass sie sich in der letzten Woche umgebracht hätte.

Bitte was?! Ja. Beim Job ein Sparbuch einer Klientin eingesteckt, beim Geld abheben geschnappt worden, verhört worden, aus dem Job fristlos rausgeflogen, eine Nacht gegrübelt, keinen Ausweg gesehen, Suizid. Stand sogar in der Zeitung – die ich nicht lese. Wie kann so etwas sein?!

Ich bin völlig geplättet. Völlig neben der Spur. Davon abgesehen, dass ich es ihr nicht zugetraut hätte und sehr verwirrt bin, dass ich mich so getäuscht haben könnte in einem Menschen – da macht jemand einen Job, bei dem er Menschen, die durch irgendein Ereignis (es muss ja nicht unbedingt ein Unfall mit Querschnittlähmung sein) aus ihrem Lebensmittelpunkt geschoben werden und zurück in ein geordnetes Leben, in ein gesellschaftliches Miteinander wollen, dabei hilft, ihre zum Teil nahezu unüberwindbaren Probleme zu lösen – und dann ist jemand so naiv, dass er glaubt, mit gestohlenem Geld glücklich oder sorgenfrei zu werden?

Und dann lässt sie sich erwischen und schafft es dann nicht, reinen Tisch zu machen? Klar, der Job ist weg. Der gute Ruf auch. Ich persönlich hätte mir nicht vorstellen können, ihr weiterhin zu vertrauen, wenn sich diese Geschichte denn wirklich so zugetragen hat. Aber deshalb sich umbringen? Sein Leben wegwerfen?

Nun, es kann jeder mit seinem Leben machen was er will. Es steht mir auch nicht zu, darüber zu urteilen. Ich kenne die Fakten nicht, nur Gerüchte und Halbwahrheiten aus der Zeitung. Ich bezweifel aber, dass diese Entscheidung eine gute war. Wäre ich die Betroffene, wäre ich vermutlich fuchsteufelswild und endlos sauer. Ich würde nach einer harten Strafe rufen. Es geht überhaupt nicht, dass ein Mensch, der für einen irgendwie „Bedürftigen“ soziale Dienste erbringt, diesen bestiehlt. Ich hätte mich vermutlich dafür stark gemacht, dass sie nicht mehr in diesem Job arbeiten darf. Aber mit einer Bewährungsstrafe hätte ich leben können. Trotz eines solchen Vergehens bleibt sie ein Mensch. Auch wenn sie Schuld auf sich geladen hat.

Mit meinen Leuten in der WG habe ich sehr intensiv über diese Neuigkeit gesprochen. Alle waren fassungslos über diese so heftige Tat. Auch wenn ich meine Gedanken einige Stunden später wieder ein wenig geordnet habe – unbegreiflich bleibt es mir wohl für immer. Ich kann vor allem nicht begreifen, dass ich sie vor zwei Wochen noch scheinbar völlig sorgenfrei gesehen habe. Mit ihr geredet habe, mich verabschiedet habe bis zur nächsten Woche. Und dann sowas?!

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