Als ich von der Schule nach Hause kam, hatte ich schon wieder die Nachricht auf dem AB, dass heute das Schwimmtraining erneut ausfällt. Okay, lässt sich nicht ändern, hoffentlich ist der Winter bald vorbei, damit wir wieder draußen trainieren können. Das Tauwetter hat nur kurz angedauert, heute schneite es schon wieder. Da sie auch einen Temperatursturz sowie Schneeregen mit Straßenglätte angesagt hatten, beschloss ich, zur Physio mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren.
Schwimmen fiel aus, Bewegungsbad war nur für letztes Mal abgesprochen, also ließ ich meine Badesachen zu Hause, packte aber meine nicht gestohlene und frisch gewaschene und damit nicht mehr nach Chemie stinkende (vergleiche hier) Leggings ein. Ronja, meine Physiotherapeutin, hat einen Leggings-Faible. Weil man in den Leggings die Beine so gut sieht (ob sie gestreckt sind, ob sie verdreht sind, welche Muskeln man trotz seines Querschnitts anspannen kann, …), schickt sie erstmal alle Patienten zum Klamottenkaufen. Jana war auch schon auf Einkaufstour, ist jedoch nicht des Ladendiebstahls verdächtigt worden.
Als ich nach drei verpassten Anschlüssen endlich im Krankenhaus ankam und mit dem Gerätetraining beginnen wollte, kam Ronja auf mich zu und sagte: „Wir haben ein Problem. Zwei Kolleginnen haben sich krank gemeldet und hier herrscht gerade großes Chaos. Kannst du gleich zur Massage kommen und danach Gerätetraining machen und wir lassen die Einzelbehandlung ausfallen? Ich muss noch eine Patientin von meiner Kollegin übernehmen und habe danach noch eine Patientin, die ihren Termin verlegt hat und die krieg ich nicht ans Telefon. Ich kann ihr nicht absagen und ich will sie nicht einfach so wieder wegschicken. Kompromiss sozusagen.“
Ja, kein Problem. Solange ich meine Massage bekomme, bin ich glücklich. „Och Ronja, nun hab ich nur für dich extra so eine tolle Leggings gekauft und nun sagst du das ab“, scherzte ich. Sie guckte mich entsetzt an. Ronja versteht solchen Humor erst im zweiten Anlauf. „Hast du die wirklich extra gekauft?“ – „Ronja, das war nur ein Scherz. Ich kann sie ja zur Massage anziehen.“ – „Ey, verarsch mich nicht! Sonst gibts auch keine Massage!“
Na gut. Die Massagen von ihr sind und bleiben einfach nur genial. Ich stehe ja eher auf die harte und kräftige Tour, allerdings darf es nicht weh tun und muss gleichzeitig noch entspannend sein und vor allem was bringen. Also dass die eher verspannten Muskeln sich hinterher entspannt anfühlen und man richtig merkt, dass sie da irgendeine Verspannung bearbeitet und dabei auch was bewirkt. Das tut sie. Der kleine Kampfzwerg ist gut. Ich hatte zwar erst drei Massagen bei ihr, aber wenn mich jemand fragen würde, ob ich sie empfehlen würde, würde ich es uneingeschränkt tun. Man muss eben nur mit ihrer sehr einfachen und eher tollpatschig wirkenden Art klar kommen. Und mit ihrem Leggings-Faible…
Als ich zum Gerätetraining fuhr, traf ich Jana auf dem Flur. Sie wollte auch dorthin. „Hast du danach bei Ronja einen Einzeltermin?“ Sie nickte. Ich erzählte ihr kurz vom heutigen Chaos. „Wollen wir sie nicht fragen, ob wir zu zweit was machen können? Da geht doch bestimmt was. Und wenn nicht, kannst du doch vielleicht so lange schwimmen, wie ich mit ihr Therapie mache.“ – „Hast du Bewegungsbad?“ fragte ich sie. Sie nickte.
„Ich habe nicht mal Badesachen mit“, antwortete ich. Jana zuckte mit den Schultern: „Hast du keine zweite Unterhose mit? Kannst von mir eine kriegen. Da unten guckt doch keiner zu. Unterhose und T-Shirt.“ Wir fragten Ronja. „Natürlich kannst du mitmachen, wenn Jana damit kein Problem hat.“
„Sie hat nur keine Badesachen dabei. Kann sie mit Unterhose und T-Shirt schwimmen?“ fragte Jana. Ronja zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Ich kann ja meine neuen Leggings anziehen“, scherzte ich. Ich würde das alles gar nicht erwähnen, wenn Ronja mich daraufhin nicht blitzartig angeschaut hätte und -zwar mit einem Grinsen, aber dennoch- eindeutig ernsthaft gesagt hätte: „Ja, das könntest du machen. Das sieht bestimmt sexy aus!“
Mir wären fast die Augen rausgefallen. Jana kam mir zuvor und fragte lachend: „Hey Ronja, stehst du etwa auf Frauen in sexy Leggings?“ Sie wurde rot wie eine Tomate. „Nein, natürlich nicht!“
Jana antwortete: „Na, ich glaub aber doch.“ Ich musste lachen. Die Vorstellung war schon ziemlich absurd. Aber sie belästigte ja niemanden mit ihrem komischen Faible. Er war nur sehr amüsant.
Auf dem Rückweg durch den Schneematsch fuhren wir über Bergedorf. Im Bahnhof Bergedorf ging natürlich der Aufzug zum Gleis 4 mal wieder nicht. Der nächste Regionalexpress zum Hauptbahnhof fuhr erst in über einer Stunde. Unten war auch keine Infosäule, also überlegten wir, wie wir am besten nach Mümmelmannsberg zur U-Bahn kommen würden. In Billstedt wird ja auch gerade gebaut. Das würde uns jetzt rund eine Stunde kosten – dann könnten wir uns auch in die Dönerbude setzen und auf den Regionalexpress warten. Während wir redeten und Jana zum fünften Mal auf den Knopf drückte und senkrecht nach oben in den Schacht guckte, ob der Aufzug nicht doch kommen würde, sprach uns plötzlich eine Frau dumm von hinten an: „Könnt ihr nicht die Treppe nehmen? So jung und schon so behindert?“
Lediglich die offensichtlich verstellte Stimme hinderte mich daran, mich gleich mit ausgestreckter Faust umzudrehen… Es war Sofie. „Hey, was machst du denn hier?“ – „Ja und ihr? Immer wieder die üblichen Verdächtigen vor defekten Aufzügen!“
Die zündende Idee hatte Sofie. „Wir fahren einfach auf Gleis 5, dort steht eine Infosäule. Dann soll sich Unternehmen ‚S-Bahn‘ mal was einfallen lassen.“ Gesagt, getan. Die Frau von der Infosäule war schnell
im Bilde. „So ein Mist, der Aufzug steht hier als okay im System“, sagte sie. „Aber bleiben Sie auf dem Bahnsteig, Sie bekommen Hilfe.“ Oha. Alle Achtung. Das 5. Gleis wurde eigentlich nur zu Hauptverkehrszeiten benutzt. An der Anzeigetafel stand: „Hier kein Zugverkehr“
Noch zwei Minuten. Dann sprang die Anzeige um: Nächste S-Bahn zum Hauptbahnhof in 6 Minuten. Drüben, auf Gleis 4, wo die Bahnen sonst abfahren, schaltete sich die Anzeige um auf „Bitte Ansage beachten“. Rund 150 Leute standen auf dem Bahnsteig. *GONG* „Verehrte Fahrgäste, bitte beachten Sie: Auf Grund einer Betriebsstörung verkehrt der nächste Zug in Richtung Hauptbahnhof abweichend aus Gleis 5. Ich wiederhole: Auf Grund einer Betriebsstörung verkehrt der nächste Zug in Richtung Hauptbahnhof abweichend aus Gleis 5. Wir bitten um Entschuldigung. Knack. Plopp.“
„Sind wir die Betriebsstörung?“ fragte ich Sofie. Sofie antwortete: „Nö, der kaputte Fahrstuhl.“ Jana versteckte ihr Gesicht hinter ihren Händen. Einige Fahrgäste schauten zu uns rüber. „Sorry Leute, drüben geht der Aufzug nicht“, rief Sofie nach drüben. Einige schüttelten die Köpfe. Als hätte jemand den Startschuss gegeben, setzten sich die Leute langsam in Bewegung. Treppe runter, durch den Tunnel, Treppe rauf. 150 Leute müssen wegen 3 Behindis den Bahnsteig wechseln. Dann kam die Bahn. Der Fahrer stieg aus: „Na Mädels, schafft ihr das ohne Rampe?“
Jana sagte: „Das ist so peinlich! Die mussten wegen uns alle den Bahnsteig wechseln. Aber wir freuen uns, dass wir mitkommen.“ Der Fahrer antwortete: „Och, da macht euch mal keinen Kopf. Die können ja alle laufen! Und die Weiche war noch nicht gestellt, dann ist das alles kein Problem! Ist ja nicht eure Schuld, wenn der Aufzug nicht geht. Da setzt sich immer das ganze Streuzeug in die Türschienen und dann blockieren die Dinger.“
Mit anderen Worten: Es fehlt der Mann mit dem Besen. Kein Kommentar. Der Zug fuhr ab, alles gut. Bis Berliner Tor. Dann ging es über Minuten nicht weiter. Alle Türen sperrangelweit offen, arschkalt, keine Information. Immer, wenn Sofie die Tür zu machte, wollte 10 Sekunden später wieder einer raus oder rein. Und das Problem bei den alten Zügen ist, dass die Heizung nicht geht, wenn der Zug nicht fährt. Weil nämlich, kaum zu glauben aber wahr, die Wärme von den Bremsen zum Heizen genommen wird. Und wenn der Zug steht, wird nicht gebremst, und wenn nicht gebremst wird, wird nicht geheizt. Dann endlich eine Durchsage: „Wegen eines Polizeieinsatzes im Bereich Hauptbahnhof verzögert sich die Weiterfahrt um voraussichtlich 10 bis 15 Minuten.“
Alle bis auf wir drei und zwei Omas stiegen aus dem Wagen aus. Die meisten gehen natürlich zu Fuß die eine Station weiter. Wenn die schon von 15 Minuten sprechen, werden es erfahrungsgemäß eher 30. Sofie schloss zum mindestens 20. Mal die Tür. Dann kam der Zugführer aus seinem Kabuff. „Da hat es wohl einen Personenunfall gegeben. Das kann noch dauern. Aber ich kann euch hier nicht raussetzen, ihr kommt hier nicht weg. Vom Hauptbahnhof kommt kein Zug in die Gegenrichtung, wir fahren auch nicht weiter und vom Bahnsteig kommt ihr nicht die Treppen runter. Ihr müsstet leider abwarten.“ Ja, lässt sich ja nicht ändern.
Ich kippte meinen Rollstuhl gegen die Wand, um entspannter zu sitzen. Jana fuhr vor eine Bank und legte ihre Füße hoch. „Erstmal bequem machen, wer weiß, wie lange das hier noch dauert“, sagte sie. Die eine Oma, die noch nicht ausgestiegen war, regte sich gleich auf. „Mit den Schuhen auf den Sitz?“ fragte sie. Jana antwortete gleich: „Auf der Sohle ist noch nie jemand gelaufen. Die sind blitzeblank.“ Hat die Oma nicht verstanden. Macht nichts.
Sofie allerdings war weniger entspannt. Ich möchte mich nicht rechtfertigen, warum ich mal wieder über den Schweinkram schreibe. Es gehörte zum heutigen Tag genauso wie der Gleiswechel und die sonderbare Schwimmstunde. Es war genial. Wer es aber trotzdem nicht lesen will, sei vorgewarnt und kann runterscrollen. Wer meint, dass er für Sofie Partei ergreifen muss: Sie hat ihr Okay gegeben für meinen Blog und ist sehr entspannt. „Ich piss mir gleich in die Hosen“, meinte sie irgendwann. Jana hatte die Idee, ob es nicht auf dem Bahnsteig irgendeine Möglichkeit gibt. Nein, gab es nicht. Es rannten noch genug Leute herum, wir würden auf jeden Fall die Aufmerksamkeit des Fahrers auf uns ziehen, wenn wir hier plötzlich aus- und wieder einsteigen. „Ist hier nicht irgendwo eine leere Flasche?“ fragte ich, zwängte mich durch den Wagen und suchte in den Mülleimern und unter den Sitzen. „Jule wird zur Flaschensammlerin“, spottete Jana.
Keine Flasche. Es hatte auch niemand eine Trinkflasche mit, deren Inhalt man aus der Tür rauskippen könnte, um sie anschließend für andere Zwecke zu benutzen. „Hock dich doch einfach zwischen zwei Sitzbänke“, sagte Jana. Sofie zeigte ihr einen Vogel. „Und in dem Moment kommt jemand rein oder der Kutscher aus seiner Butze raus und fragt, ob ich Hilfe brauche, oder was. Näh!“ – „Wir stellen uns davor!“ – „Nix.“ – „Willst du von mir ne Pampers haben und die anziehen?“ – „Vergiss es, ich zieh hier nicht in einer hell erleuchteten Bahn blank. Und fall dabei vielleicht noch aus dem Stuhl.“
Der Fahrer kam erneut raus. „Kein Personenunfall, ein Polizeieinsatz im Zug. Da haben sich wohl welche gekloppt. Es soll in 10 Minuten weiter gehen.“ Als die Tür wieder zu war, fragte ich Sofie: „Hältst du das noch aus.“ – „Ist schon zu spät.“ Janas schaute intensiv unter Sofies Stuhl. „Es leckt noch gar nicht.“ Wer den Schaden hat… Sie kann so nett sein. Aber, auch wenn es für außenstehende eher skurril, eklig oder gar abartig scheint, wir hatten unseren Spaß. Jeder setzte noch einen drauf. Sofie: „Das Kissen ist sehr saugfähig. Das fängt erst mit der Zeit an zu kleckern. Und dann vor allem, wenn man bergauf fährt.“ – „Oder kippelt“, fügte ich hinzu.
„Oder kippelt“, bestätigte Sofie. Jana: „Hast du ein Handy in der Hosentasche? Das würde ich rausnehmen, falls es nicht die Trekking-Ausführung ist.“ – „Gut, dass du das sagst. Aber mein Handy ist im Rucksack“, antwortete sie. „Zwischen den Schwimmsachen“, setzte ich noch oben drauf. „Achso, zum Thema Schwimmsachen: Unsere Physio steht darauf, wenn ihre Patientinnen mit knackig engen Leggings schwimmen gehen.“ – „Echt?“ grinste mich Sofie an. „Ach ist das die mit der geistigen Behinderung, von der du neulich erzählt hast?“
Ich nickte. „Und jetzt wart ihr drei mit Leggings im Whirlpool kuscheln oder was?“ – „Nein, ich hatte keine Badesachen mit und wir hatten spontan zusammen Bewegungsbad. Da hab ich meine Sporthose angezogen und sie fand es sexy.“ – Sofie antwortete: „Sexy!?! Na super! Pass bloß auf, dass sie dich nicht mal in der Kniekehle krault, während du da auf der Liege liegst und das nicht merkst.“ Jana krümmte sich schon vor Lachen.
„Na, Sofie, wie fühlt man sich mit nasser Hose?“ fragte Jana. Sofie antwortete: „Och, noch ist es schön warm am Arsch. Frag mich in einer halben Stunde nochmal.“ – „Wir können ja im Hauptbahnhof für dich noch schnell ein Getränk kaufen, dann kannst du bis zu Hause nochmal nachwärmen.“ – „Bäh, Jana, jetzt wirds eklig.“ – „Nee, das ist schon eklig. Guck dir die Sauerei doch mal an hier. Wenn die Bahn losfährt, läuft das alles hin und her.“ – „Wie gut, dass wir nächste Station aussteigen.“
Kaum ausgesprochen, ging es tatsächlich endlich weiter. Die letzten bissigen Sprüche bekomme ich nicht mehr zusammen, aber im Hauptbahnhof kam der Fahrer aus seiner Tür und wollte uns helfen. Aussteigen geht jedoch auch bei den alten Bahnen ohne Hilfe. Sofie antwortete auf sein Hilfsangebot ohne eine Miene zu verziehen: „Nein danke, raus kommen wir alleine. Und passen Sie auf, hier ist irgendwas ausgelaufen. Tschüss und
danke nochmal!“
Als wir eine Dreiviertelstunde später endlich wieder zu Hause waren, stand Lina in der Küche und backte einen Kuchen. Sofie begrüßte sie: „Hi! Na? Das war wieder ein Tag. Aufzug in Bergedorf kaputt, unseretwegen haben sie alle aufs Gleis 5 gejagt, dann Schlägerei im Hauptbahnhof mit Polizei, so dass keine Bahn mehr fuhr – jetzt haben wir es gleich 20 Uhr und ich hatte noch nicht mal Mittagessen.“ – „Frag mich mal. Den Kuchen wollte ich schon heute mittag backen.“ – „Oh nee, und ich muss dir was ekliges erzählen.“ Lina antwortete, während sie nach dem Kuchen schaute. „Lass mich raten. Du hast gerade gepupst.“ – „Falsch.“ – „Du hast dir in die Hosen gemacht.“ – „Richtig.“ – „Bin ich gut? Im zweiten Anlauf! Achso, und ich soll dir von Frank ausrichten, dass du morgen das Auto haben kannst.“
Ich wollte Sofie nochmal ärgern und gleichzeitig auch eine Steilvorlage kreieren, um Lina von der Physiotherapeutin erzählen zu können. „Sag mal, hast du eigentlich ne Leggings drunter?“ – „Oh nee. Nicht die Story schon wieder. Ich geh duschen.“
Lina verstand nur Bahnhof. „Welche Story? Erzähl! Ich wills hören!“ So wäre fast der Kuchen angebrannt. Schokoladenkuchen übrigens.