Schwimmen zählt nicht

Zur Zeit komme ich nicht aus dem Haus. Vor der Tür hat sind die Gehwege nicht nur vereist, sondern auf dem Eis liegt festgetretener, aber nicht mit dem Eis verbundener Schnee, in dem man mit den Vorderrädern versinkt. Das betrifft nicht nur mich, sondern auch die anderen Rollstuhlfahrer in meiner WG und auch viele andere Rollstuhlfahrer in Hamburg.

Ich könnte normalerweise wenigstens mit dem Auto losfahren, das geht aber im Moment auch nicht, da das elektrische Garagentor defekt ist. Ein
Ersatzteil soll erst in der nächsten Woche geliefert werden, solange lässt sich das Tor überhaupt nicht öffnen oder schließen. Das Rolltor ließe sich im Notfall mit einer Handkurbel öffnen – aber nicht wieder schließen. Keine Ahnung, wer so etwas baut. Jedenfalls haben wir uns zwangsweise darauf einigen müssen, dass das Tor geschlossen bleibt, denn
durch das geöffnete Tor könnte jede wildfremde Person durchs ganze Haus
spazieren.

Die anderen Mieter haben immerhin die Möglichkeit, ihr Auto solange draußen zu parken. Ich könnte das auch, würde dann aber immer jemanden benötigen, der mich dorthin schiebt und mir beim Verladen des Rollstuhles hilft. Sowohl beim Losfahren als auch beim Zurückkommen. Und
das geht eben nicht.

Somit fahre ich im Moment mit dem Taxi zur Schule. Um zu fragen, ob das übernommen wird, musste ich sowieso bei meiner Unfallkasse anrufen. Also bequatschte ich Frank nochmal, ob es nicht doch irgendeinen Ansatz gibt, um mein Problem
mit dem Schwimmen zu lösen. Vor allem, weil ich im Schwimmunterricht mal nicht „anders“ bin und mit den anderen mithalten kann, fände ich es sehr wichtig, dass ich daran teilnehmen kann und nicht etwa in einem anderen Schwimmbad am Montagmorgen schwimme – wie es hier vorgeschlagen wurde. Woanders schwimmen kann ich jederzeit.

Frank meinte: „So, wie es jetzt ist, ist es nicht optimal. Es gibt zwei Möglichkeiten, nämlich die eine, dass die Unfallkasse klipp und klar sagt, dass auch ‚privates‘ Schwimmengehen während des Schulschwimmens verboten ist, oder dass es irgendeine Möglichkeit gibt, das weiterhin zu tun.“ Im ersten Fall müsste ich es künftig sein lassen,
im zweiten Fall käme ich in die Behindertendusche. Also ganz oder gar nicht. Also sollte ich fragen, ob etwas dagegen spricht, wenn ich während meiner Freistunden im gleichen Schwimmbad privat schwimmen gehe wie meine Klassenkameraden.

Gesagt, getan. Die Taxikosten werden übernommen. „Und dann hätte ich noch eine Frage bitte. Ich habe ja deutlich weniger Stunden als meine Mitschüler in meinem Jahrgang, und daher auch deutlich mehr Freistunden.
Darf ich in den Freistunden eigentlich privat schwimmen gehen?“

„Sie dürfen in den Freistunden machen, was Sie wollen!“ – „Dürfte ich
dann auch in dem Schwimmbad schwimmen gehen, wo meine Mitschüler in der
Zeit Schwimmunterricht haben?“

„Sie dürfen auch ganz normal mitschwimmen. Sie dürfen Ihre Leistung auch mit anderen messen oder messen lassen. Sie dürfen nur am Ende keine
Note dafür bekommen.“

„Achso? Weil man mich ganz, ganz doll gewarnt hat, ich müsste diese 20-Stunden-Regel ganz genau einhalten und dürfte nicht eine Minute länger am Unterricht teilnehmen, sonst würde ich meine Rente verlieren.“

„Das ist im Prinzip auch richtig. So erklärt man es erstmal ganz einfach. Aber es gibt mehrere Urteile dazu, und dann wird es speziell. Ich erkläre Ihnen das mal genau.“ – „Das wäre prima.“

„Nach einem Gutachten sind Sie erwerbsunfähig. Das bedeutet, dass Sie
nicht in der Lage sind, dauerhaft mehr als 15 Stunden (zu je 60 Minuten) pro Woche zu arbeiten. Diese Feststellung ist nicht als Leistungsbeurteilung zu verstehen, sondern trägt“, wie hat sie es genannt?, „Ihrem Bedürfnis nach und Ihrem Anspruch auf lebenslange Rehabilitation Rechnung. Das heißt auf Deutsch: Wir wollen, dass Sie Ihre Therapien, insbesondere die Physiotherapie, ohne Druck durch den Arbeitgeber fortführen können. Sie sollen nicht mehr als 3 bis 4 Stunden
ununterbrochen sitzen, weil das Ihrer Haut im Gesäßbereich nicht gut tut. Sie sollen sich alleine versorgen können, weil das nicht nur billiger, sondern auch angenehmer für alle Seiten ist. Sie brauchen länger unter der Dusche und auf dem WC. Deswegen wird das so festgesetzt, auch wenn sich die Betroffenen oft leistungsfähiger fühlen.
Sie sollen aber die Chance haben, kürzer zu treten, ohne dass Sie gleich den Job verlieren. Wichtig ist, dass Sie das entscheiden können, wenn es gerade notwendig ist und dann nicht erst lange Anträge stellen müssen. Querschnittlähmung kann Jahre lang gut gehen, aber ein Infekt oder eine Druckstelle kann Sie vielleicht Monate lang aus der Bahn werfen. Da sind Sie froh über jede Stunde, die Sie Ruhe haben.“

Ich fragte sie: „Darf ich fragen, woher Sie sich so gut mit Querschnittlähmungen auskennen?“

„Ja, dürfen Sie. Ich bin selbst querschnittgelähmt. Aber zurück zum Thema: Wie Sie das im Alltag umsetzen, ist aber eine völlig andere Sache“, fuhr sie fort. „Sie dürfen aus nicht mehr als 15 Stunden Einkommen erzielen. Sobald Sie für eine 16. Stunde bezahlt werden, ist der Sack zu und die Rente wird gestrichen. Wenn Sie aber 30 Stunden in der Firma sitzen und in der Zeit das Pensum von 15 Stunden schaffen und auch nur für 15 Stunden bezahlt bekommen, weil Sie vielleicht alle 20 Minuten für 5 Minuten die Augen schließen und sich entspannen, dann ist das Ihr Ding. Wenn Ihr Arbeitgeber das mitmacht, können Sie auch morgens
eine Stunde arbeiten, mittags eine Stunde arbeiten und abends eine Stunde arbeiten und dazwischen in das betriebseigene Fitness-Center oder
in die Kantine gehen und Fernsehen. Das spielt alles keine Rolle.“

„Gut, nun habe ich aber keinen Job, sondern bin Schülerin.“ – „Richtig. Und da ist es genauso. Sie haben den Leistungsdruck von 15 Stunden pro Woche, sind 20 Schulstunden oder 10 Doppelstunden. Dafür bekommen Sie Noten. Und vermutlich für einige Hausarbeiten. Sie können diese Hausarbeiten aber theoretisch auch in der Schule machen, während die anderen genau dieses Fach haben, sogar im selben Unterrichtsraum. Sie dürfen in Ihren Freistunden auch am Unterricht teilnehmen, auch aktiv. Sie dürfen nur keine Note dafür bekommen. Es muss sichergestellt sein, dass in dem Moment, wo es Ihnen schlecht geht oder wo Sie eine Druckstelle bekommen oder wo Ihre Spastik zunimmt, Sie ohne mit der Wimper zucken zu müssen Ihre Stundenzahl auf das Minimum runterschrauben
können. Ohne dass es sich im Zeugnis auswirkt. Sie können also problemlos am Schwimmunterricht teilnehmen – solange Sie nicht unter dem
Druck stehen, eine gute Leistung abgeben zu müssen.“

Das hörte sich doch ganz anders an. „Sie dürfen zum Beispiel auch nicht dazuverdienen. Deswegen bekommen Sie ja die Rente auch schon als Schülerin. Das ist eben eine Besonderheit bei der Unfallversicherung. Sobald Sie 15 Stunden am Unterricht teilnehmen und gehen danach 1 Stunde
Babysitten, ist die Rente weg. Das dürfen Sie nicht tun. Wenn Sie aber nach den 15 Stunden noch 15 Stunden freiwillig am Unterricht teilnehmen –
kein Problem. Sie können auch 15 Stunden als Gast in die Uni gehen oder
15 Stunden Wikipedia lesen oder 15 Stunden die Bibel studieren oder 30 Stunden ehrenamtlich unter Obdachlosen Brot verteilen. Das spielt alles keine Rolle. Sie dürfen nur nicht weiter unter Leistungsdruck stehen.“

„Gibt es dazu irgendwie ein Merkblatt oder sowas? Wo das drin steht?“
– „Nein, aber es gibt mehrere Urteile dazu, die ich Ihnen zumailen kann, wenn Sie das wollen. Sie können Sie auch im Internet raussuchen, das Bundessozialgericht hat eine Internetdatenbank, in der jeder recherchieren kann.“ Das wird Frank mit Sicherheit wissen und finden.

Das sind doch mal erfreuliche Nachrichten. Denn so kann ich ganz normal mit den anderen Schülern ins Schwimmbad und gemeinsam am Sport teilnehmen – und darf sogar in den Umkleideraum für Behinderte. Muss mich also nicht mehr auf dem Gang umziehen, darf mich vorher auch duschen, auf die Toilette – was für ein Luxus. Ich bin mal gespannt, wie
das nächste Woche wird.

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