„Dreh dich nicht um, sondern küss mich und du wirst geheilt.“ Für einen Moment überlegte ich, ob ich die Frauenstimme kannte und mir nur irgendwer einen blöden Scherz spielte. Aber ich kannte die Frauenstimme nicht und auch die Hand auf meiner Schulter war mir unangenehm. Ich drehte mich um, schaute nach oben und sah ein ziemlich ranziges Geschöpf, eine vermutlich obdachlose Frau Mitte 40, schmutzige Fingernägel, Zahnlücken und speckige Haare. Sie trug eine abgewetzte dunkelrote Jacke und um den Hals ein graues Tuch. Es war 20 Sekunden vor
dem Halt im Hamburger Hauptbahnhof und ich stand direkt an der Tür, zum
Aussteigen bereit, in der S 31.
„Nehmen Sie mal bitte Ihre Hände weg. Ich mag nicht angefasst werden.“
„Jetzt hast du dich ja doch umgedreht“, lallte sie. „Nun ist es zu spät für eine Heilung und du wirst ein Leben lang in diesem Stuhl sitzen
müssen.“
„Damit hatte ich mich sowieso schon abgefunden“, konterte ich. „Würden Sie jetzt mal die Hand von meiner Schulter nehmen?“ fauchte ich
sie an. In dem Moment fing sie an zu brüllen und durch den Wagen zu laufen. „Meine Kräfte stauen sich ungenutzt!“
Ich schaute auf den Mann, der hinter mir stand und bereits einen Stöpsel aus dem Ohr gezogen hatte, um mitzukriegen, was hier abgeht. „Was hat die denn geraucht?“ fragte er kopfschüttelnd.
„Auf jeden Fall irgendwas, was sich ganz offensichtlich nicht mit ihren kleinen bunten Pillen verträgt.“ antwortete ich. Eine Frau, die auch aussteigen wollte und schräg hinter mir stand, fing an zu kiechern.
Auf der Rolltreppe hatte ich die ranzige Frau wieder hinter mir. „Soll ich dich festhalten oder kannst du das alleine?“ fragte sie und drückte gegen meine Schiebegriffe. „Finger weg!“ brüllte ich sie an. „Ich habe Ihnen eben schon einmal gesagt, Sie sollen mich nicht anfassen!“
Als ich in der U-Bahn war, saß am Ende des Wagens Helmut. Bekannt wie
ein bunter Hund, weil er scheinbar jeden Tag in der U-Bahn sitzt. Ich habe ihn nun schon mehrmals gesehen. In seinem Hackenporsche hat er immer seinen halben Hausstand dabei, dazu eine Plastikmaske, die er sich
zwischendurch immer mal wieder vor sein Gesicht hält und ruft: „Hier kommt Helmut. Ich bin eine Kuh!“ Und dann bläst er in eine Plastiktröte hinein, die ein Geräusch macht, als wenn eine Kuh muht. Das allerdings so laut, dass alle im Wagen zusammenzucken und sich umdrehen. Er wiederholt noch einmal: „Hier kommt die Kuh!“ und bläst noch mehrmals in
die Tröte.
Wie immer: Einige Leute fingen zu grinsen an, andere schauten ihn ernst an. Ich bekam Blickkontakt mit einer jungen Frau. Sie verdrehte die Augen und ich kommentierte: „BSE, Rinderwahnsinn, irgendwie sowas.“ Sie lachte. Vielleicht ist es eine sehr einfache oder gar schon ungezogene Art, sich über andere Menschen lustig zu machen. Ich finde es
jedoch sehr spannend, andere Menschen zu beobachten. Viele verhalten sich sehr unauffällig, aber einige wenige sorgen für jede Menge Spaß und
Unterhaltung auf einer sonst so eintönigen Fahrt. Und wer sich so skurril verhält wie der muhende Helmut, muss auch damit rechnen, dass man sich über ihn lustig macht.