Viel Lärm um meinen Rollstuhl

Das Gute an den Ferien ist ja, dass man morgens frei hat. So kommt auch eine Schülerin mal morgens zum Arzt. Ich brauche ja immernoch ein Rezept für meinen Rollstuhl. Die Unfallkasse wartet dringend darauf, meine Hausärztin war in Urlaub und ihre Vertretung, Frau Doktor Zicke, wollte mir keins ausstellen.

Vor dem Praxiseingang, auf dem Grundstück, waren zwei gepflasterte Parkplätze. An der Hauswand davor hingen zwei Rollstuhlfahrersymbole. Entweder waren die neu oder ich hatte sie beim letzten Mal übersehen. Die Parkplätze waren schon länger dort, aber die Schilder wären mir sicherlich aufgefallen. So kam ich ohne große Kunststücke direkt in die Praxis. Ich wurde gleich freundlich bedient (dass es auch anders geht, durfte ich ja letzte Woche gerade erfahren), ich solle einen Moment im Wartezimmer warten. „Ich weiß nicht, ob Frau Doktor dazu noch Fragen hat, es ist besser, wenn Sie das direkt besprechen. Es dauert aber nicht
lange.“

Ich nahm mir eine Bravo vom Zeitungstisch. Lange ist es her, dass ich
die zum letzten Mal gelesen habe. Das war während meines Klinikaufenthaltes, da hat immer einer aus irgendeinem Zimmer diese Dinger gekauft und dann machten sie die Runde. Einige Omis schielten zu mir herüber, wie ich aus dem Augenwinkel sehen konnte. Eine Oma pupste, ein Typ zog ständig hoch. Hier bin ich richtig.

Früher, wenn ich in der Schule Aufsätze schreiben musste, habe ich spannende Stellen immer angekündigt mit den Worten: „Und plötzlich geschah es.“ Bis mir in der 4. Klasse mal ein Lehrer sagte, dass ich statt „geschah es“ lieber gleich schreiben soll, was denn geschieht. Ich
will auf ihn hören: Und plötzlich ging die Tür auf und eine alte Frau stolperte hinein. Ich konnte sie nicht sehen, aber hören. Im Arm schien sie ihren Mann zu haben, der keuchte wie eine alte Dampflok. Dann ließ er sich auf den Boden fallen und sie rief: „Bitte helfen Sie uns, ich glaube, mein Fritz stirbt!“ Oh. Mein. Gott.

Eine Frau, schätzungsweise Anfang 80, sprang wie von der Tarantel gestochen auf und wackelte zur offenen Wartezimmertür, um in den Empfangsbereich schauen zu können. Eine zweite Frau machte es ihr nach. So standen die beiden alten Hühner in der Tür und glotzten nach draußen.
Dort kam Hektik auf, dann hörte ich die Stimme von der Ärztin: „Notfallkoffer, EKG, Sauerstoff. Du rufst den Notarzt, Du sperrst die Tür zu und Sie beide setzen sich wieder hin und machen mal für einen Moment die Tür zu.“ Das galt den beiden alten Damen. Worauf eine sagte: „Ich muss dringend auf die Toilette.“ Antwort: „Dann gehen Sie jetzt zügig dorthin und bleiben dort, bis das hier vorbei ist. Und die Tür bleibt zu.“ Ich dachte schon, sie würde sich unfreundlich behandelt fühlen, jedoch antwortete sie nur: „Jawohl, Frau Doktor.“ Anscheinend muss man wissen, wie man mit solchen Leuten umgeht. Wäre es um den alten
Mann, der im Eingangsbereich der Praxis auf der Erde lag, nicht offensichtlich so ernst, hätte man das Schauspiel sehr gut verfilmen können.

Es dauerte ein paar Minuten, dann hörte man draußen Sirenengeheul. Es
war ein Rettungswagen. Durch die Glastür konnte man nur Farben und Umrisse erkennen. Da es im Wartezimmer mucksmäuschenstill war, konnte man hören, wie einer der Sanitäter sagte: „Der Notarzt kommt vom Bundeswehrkrankenhaus.“ Keine Minute später hörte man über dem Haus ohrenbetäubenden Lärm. Auf dem Nachbargrundstück standen hohe Tannen, deren Äste im plötzlichen Wind hin- und herschaukelten und ihre letzte Schneelast abwarfen. Am Bundeswehrkrankenhaus ist ein Rettungshubschrauber stationiert, der eingesetzt wird, wenn jemand schonend oder schnell transportiert werden muss (das war hier sicherlich
nicht der Fall) oder wenn der örtlich stationierte Notarzt gerade in einem anderen Einsatz ist (was hier vermutlich der Grund war). Der Rettungshubschrauber war derselbe, mit dem ich vor anderthalb Jahren nach meinem Unfall geflogen war (das allerdings wiederum wegen des schonenden und schnellen Transports). Allerdings war „mein“ Notarzt damals weiblich, heute hörte man nur Männerstimmen auf dem Flur. Man hörte irgendetwas von einer Lungenembolie, jedoch nicht, ob dieser alte Mann nun eine solche hatte oder ob die bereits ausgeschlossen war. Geht mich ja auch nichts an. Eine gefühlte Viertelstunde später war das Drama
vorbei. Der Mann wurde im Rettungswagen abtransportiert.

Irgendwann ging die Tür wieder auf und kurz darauf wurden die nächsten Patienten aufgerufen. Kurz danach wurde ich aufgerufen, sollte ins Labor fahren. „Wir schieben sie kurz dazwischen.“ Ich stellte mich neben eine Liege, gegenüber war eine Schrankwand mit integrierter Arbeitsplatte, dort räumte eine junge Frau herum, vermutlich eine Auszubildende. Dann kam die Ärztin rein und die junge Frau ging raus. „So. Hallo erstmal, ist leider etwas hektisch hier gerade. Es geht um Ihren Rollstuhl? Setzen Sie mich mal bitte kurz ins Bild.“

„Also, ganz kurz: Alter Rollstuhl ist ein Jahr alt, hatte Kontakt mit
Schnee, Salz, Streusand und scharfkantigen Eisplatten auf den Gehwegen und ist nun aus Sicht eines Gutachters, den die Kasse geschickt hat, ein
wirtschaftlicher Totalschaden. Damit er ersetzt werden kann, benötigt die Unfallkasse eine Verordnung, dass bei mir immernoch ein Rollstuhl erforderlich ist und das immernoch die bestmögliche Therapie ist. Ich war in der letzten Woche schonmal hier, da hing allerdings ein Schild an
der Tür, und mein Versuch, das bei Frau Dr. G. auf dem kurzen Weg zu erledigen, scheiterte, weil sie meinte, ich würde mir jedes Mal, wenn Sie in Urlaub sind, bei der jeweiligen Vertretung neue Rollstühle rezeptieren lassen.“

„Das hat sie so gesagt?“ Ich nickte. Sie schüttelte den Kopf. „Also zur Aufklärung: Wenn ich Urlaub mache, muss ich mindestens zwei Ärzte benennen, die mich vertreten. Das sind immer die beiden Praxen, die am nähsten dran sind. Das steht so in den Vorschriften. Das ist also keine Empfehlung. Ich kenne Frau Dr. G., wir haben einmal pro Quartal ein Treffen aller Hausärzte hier im Stadtteil. Sie verstehen, dass ich meine
persönliche Meinung nicht vor meinen Patienten ausbreite, aber aus fachlicher Sicht kann ich ihr Verhalten nicht nachvollziehen. Das bringt
Sie aber jetzt auch nicht weiter.“

„Doch, das bringt mich weiter, weil ich nicht mehr zweifeln muss, ob es an mir gelegen hat, dass wir uns da gezofft haben. Die wurde ja richtig böse, als ich die 10 Euro Praxisgebühr nicht zahlen wollte und hat mich da rausgeworfen.“ – „Sie müssen die doch auch nicht zahlen. Haben Sie ihr das nicht gesagt?“ – „Doch, aber der Sprechstundenhilfe war nicht geheuer, dass ich mit 17 schon einen Führerschein hatte und die Ärztin hat mich anschließend rausgeworfen.“ – „Ich ruf da an. Soll ich da anrufen?“ Ich zuckte gleichgültig mit den Schultern.

„Hat sie Sie wirklich rausgeworfen?“ Ich nickte. Sie griff zum Telefon, schaute mich dabei an. Wahrscheinlich war sie sich selbst nicht
sicher, ob sie mir das glauben konnte. „Gib mir mal bitte die Nummer von Frau Dr. G. ins Labor“, sagte sie ins Telefon. Keine 20 Sekunden später kam die Mitarbeiterin vom Empfang mit einem kleinen Klebezettel mit der Nummer drauf herein.

„Ja, Dr. W. hier. Ich möchte mal die Kollegin G. sprechen, bitte.“ Wartemusik. Sie starrte mich an. Dann: „Hallo, W. hier. Geht um eine Patientin, die war letzte Woche bei Ihnen, eine junge Frau im Rollstuhl,
Sie erinnern sich bestimmt. Sie sagt, Sie sei von Ihnen rausgeschmissen
worden. Darf ich fragen, was da los war?“

Ich bekam die Antwort nicht mit. Aber ihre Reaktion: „Also was Sie mit Ihren Patienten machen, ist mir relativ egal, aber meine behandeln Sie bitte vernünftig. Das ist eine junge Frau, junge Frauen haben nunmal
eine andere Sprache als studierte Naturwissenschaftler Mitte 50. Und wenn sie kiebig wird, werden Sie doch wohl was passendes rausgeben können, oder? Hier bei uns ist sie höflich. Und Praxisgebühr muss sie übrigens auch nicht zahlen – und das wissen Sie auch. Ich finde Ihr Verhalten erneut unmöglich.“ Man wünschte sich noch einen schönen Tag.

„Ich habe nicht darüber nachgedacht, dass es besser gewesen wäre, einfach eine Woche zu warten“, sagte ich. „Die Unfallkasse fragte am Telefon, ob ich das noch diese Woche schaffen würde.“ – Sie antwortete: „Manchmal komme ich mir vor wie bei ‚Büro, Büro‘, das ist eine Serie, die in den 80er-Jahren im Fernsehen lief. Haben die auch gesagt, was auf
dem Rezept draufstehen soll?“ – „Ersatz des vorhandenen Aktivrollstuhls.“

Sie sagte: „Das kann ich doch gar nicht beurteilen, ob es sich wirklich um einen wirtschaftlichen Totalschaden handelt. Steht da eine Nummer drauf?“ Ich gab ihr den Zettelkram in die Hand. Sie telefonierte mit der Unfallkasse. „Die Patientin sitzt neben mir. Was soll ich da jetzt verordnen?“ – Laber, sülz. – „Aber das kann ich doch gar nicht beurteilen, ich bin doch kein Orthopädietechniker. Ich kann Ihnen sagen,
ob noch ein Rollstuhl erforderlich ist, aber nicht, ob der alte ersetzt
werden muss. Ich untersuche doch nicht den Rollstuhl.“ – Laber, sülz. –
„Nein, mache ich nicht. Ich bin doch hier keine Behörde!“ – Laber, sülz. – „Aus medizinischer Sicht, und nur die kann ich beurteilen, ist es nicht erforderlich, den Rollstuhl auszutauschen. Aus technischer Sicht vermutlich schon. Darüber liegt Ihnen ein Gutachten vor. Was wollen Sie also jetzt von mir? Wieso schicken Sie die Patientin hier wegen so einem Papierkram durch die Gegend? Wenn Sie eine ärztliche Stellungnahme brauchen, ob mit der Totalzerstörung des Rollstuhls automatisch auch der Bedarf der Patientin an einem solchen Gerät endet, dann schreiben Sie mir eine Mail oder ein Fax und dann beantworte ich Ihnen das gerne zu den üblichen Vergütungen. Kleiner Tipp: Die Antwort darauf finden Sie beim Blättern auch in Ihrer Akte. Querschnittlähmungen
werden nicht besser. Deswegen stellt Ihre Behörde die Behindertenausweise für Querschnittgelähmte in aller Regel auch unbefristet aus. Haben Sie noch Fragen?!“

Auweia. Sonst war die Unfallkasse immer sehr nett zu mir. Hoffentlich
geht dieser Schuss nicht nach hinten los. „Man muss sich nicht alles gefallen lassen. Die Berufsgenossenschaften und Unfallkassen sind meistens sehr großzügig, aber sie übertreiben es auch gerne mal mit ihrer Bürokratie. Ich habe nichts dagegen, wenn ein Sachbearbeiter hier anfragt, ob Sie nach wie vor den Rollstuhl brauchen. Aber Neuverordnungen gibt es nur dann, wenn Sie aus medizinischer Sicht einen
neuen Rollstuhl brauchen. Sie werden aber trotzdem einen neuen bekommen. Wenn die Kasse ihn bis Ende nächster Woche nicht bewilligt hat, rufen Sie mich bitte nochmal an, okay?

Okay. Ich bin ja mal gespannt.

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