Hochkant rausgeworfen

Wenn mich jemand fragen würde, ob ich finde, dass ich gutmütig, nachsichtig und geduldig bin, würde ich das sofort bejahen und mich allgemein als sehr geduldig, gutmütig und nachsichtig einschätzen. Sicherlich bin ich in einigen Situationen auch verhältnismäßig leicht reizbar, aber insgesamt gehöre ich ganz sicher nicht zu denjenigen, die sofort austicken, sobald irgendwas nicht nach ihrem Kopf geht oder jemand etwas nicht weiß oder nicht gleich versteht.

Seit einigen Wochen bis Monaten ist ein neunzehnjähriges Mädel beim Sport, das seit einem Verkehrsunfall vor einigen Jahren im Rollstuhl sitzt. Jede Woche erzählt sie auf ein Neues von dem Stress zu Hause. Der
Vater sei abgehauen, die Mutter mit vier Kindern überfordert, kein Geld, nur Streit. Gestern kam sie schon total verheult an und meinte, sie sei froh, mal für ein paar Stunden dort raus zu sein. Sie wird nach dem Training vermutlich zu irgendwelchen Freunden fahren, um mal eine Nacht woanders zu schlafen. Mal sehen, ob sich jemand finde. Sie schlafe mit einem Bruder zusammen in einem Zimmer und das sei unerträglich, da er die ganze Nacht noch vor dem PC sitze. „Da würde ich das Stromkabel aus dem Fenster werfen“, meinte ich scherzhaft und erfuhr, dass er insgesamt körperlicher Gewalt wohl nicht abgeneigt sei. Auweia.

Nach kurzer Rücksprache mit Cathleen habe ich ihr angeboten, dass sie eine Nacht bei uns schlafen könne. Entweder bei Cathleen im Bett und Cathleen schläft bei mir, oder ansonsten hat Lina noch ein Gästebett, das sich innerhalb von 3 Minuten selbst aufbläst. (Mit ihr in einem Bett schlafen wollte ich dann doch nicht. Auch wenn ich damit im allgemeinen kein Problem habe und schon etliche Freundinnen und auch Freunde mit in meinem Bett geschlafen haben, muss ich die Leute vorher genau kennen und auch einschätzen können.) Sie nahm die Möglichkeit mit dem aufblasbaren Gästebett dankend an. Sie wusste aber, dass wir alle heute morgen früh in die Schule müssten.

Wir haben abends noch zusammen Brot gegessen, einen Augenblick mit einigen aus der WG gemeinsam ferngesehen, das Bett aufgeblasen – dann fing sie an, mir von ihrem unerträglichen Leben zu erzählen. Nicht lange, vielleicht so fünf Minuten, aber ich musste sehr schnell erkennen, dass ich ihr nur zuhören kann, denn die Probleme, die sie hat, sind so verfahren, dass sie eigentlich professionelle Hilfe bräuchte. Um halb eins, eigentlich viel zu spät, machten wir dann Licht aus und wünschten uns gute Nacht. „Gute Nacht“ und „Licht aus“ heißt bei mir eigentlich „Schlafen“, vor allem, wenn man am nächsten Morgen früh raus muss. Sie quatschte aber noch weiter und erzählte mir ihre halbe Lebensgeschichte. Ich wollte nicht unhöflich sein, dachte mir, dass sie vielleicht endlich mal die Möglichkeit hat, aus ihrem Alltagstrott rauszukommen und einfach das Bedürfnis hat, mal mit jemandem zu reden, also antwortete ich auch immer nochmal kurz und knapp. Nach gut einer Stunde schlief sie endlich ein.

Ich drehte mich auf die Seite und fünf Minuten später fing jemand an zu Schluchzen. Ich machte das Licht an und fragte sie, was los sei. Sie hatte sich komplett unter der Decke verkrochen. Ich fragte ein zweites, drittes Mal, hörte immer nur „nichts“. Irgendwann machte ich das Licht wieder aus und legte mich wieder hin, dachte, sie würde aufhören. Aber das Gegenteil war der Fall: Es wurde immer heftiger und lauter. Nach 10 Minuten knipste ich das Licht wieder an, da war es genau 1:35 Uhr. Sie lag immer noch unter ihrer Bettdecke. Ich fragte sie erneut, was los sei und als ich erneut drei Mal keine Antwort bekommen hatte, forderte ich sie ihm eher energischen Tonfall auf: „Sprich mit mir!“ Sie redete nicht. Irgendwann beugte ich mich über sie und zog die Bettdecke über ihrem Gesicht weg. In dem Moment stieß sie mich wie eine Irre zurück, so dass ich auf den Rücken zurückfiel und brüllte mich an: „Fass mich nicht an!“

„Was soll das?“ fragte ich sie. „Warum heulst du?“

Wie eine Furie fing sie zu schimpfen an. Ich sei eine scheinheilige Kuh und ich würde sie nicht wirklich mögen, sondern sie nur ertragen. Ich war so perplex, dass ich mir zusammenstotterte: „Wieso mögen, wieso ertragen? Ich habe dir angeboten, eine Nacht bei mir zu schlafen, damit du mal zu Hause rauskommst!“ – „Du weißt doch gar nicht, was zu Hause ist! Deine Eltern finanzieren dir mit 17 einen Platz in der WG, schieben dir ein Auto in den Hintern, PC hier, Spielekonsole da, Frollein Jule hat gefurzt, warten Sie, ich kaufe eine Tüte frische Luft.“

„Hast du nen Knall?“ war das einzige, was mir dazu einfiel. Ich könnte die Wahrheit nicht ertragen. Ich würde nichts mehr merken. Für mich gab es nur eine Antwort: „Raus. Zieh dich an und zisch ab.“ Sie dachte gar nicht dran, meinte, ich hätte sie eingeladen. Ich sagte: „Pack deine Sachen und verschwinde. Ich will dich hier nicht mehr sehen.“ Ich setzte mich in meinen Stuhl. Musste mir anhören, dass ich nicht wüsste, was wahre Freundschaft bedeute. Ich kenne sie doch kaum! Ich denke eher, sie weiß nicht, dass wir keine Freunde sind!

Drei Mal habe ich ihr gesagt, sie solle nicht so rumschreien, da die anderen Leute in der WG schlafen. Das kratzte sie aber nicht, sie brüllte über den Flur, dass ich noch keine Lebenserfahrung hätte und glauben würde, hinter dem Mond wäre Jahrmarkt. „Hör auf hier rumzuschreien und mach, dass du rauskommst!“

Halb in der Tür meinte Sie dann noch, dass sie nicht wisse, wie sie nach Hause kommen solle. Ich konnte mir die schnippische Bemerkung nicht verkneifen: „Versuch es mal per Rollstuhl, geht schneller als krabbeln.“ Ich war so richtig in Fahrt. Als die Tür zu war und ich mich umdrehte, schauten mich Cathleen und Frank in ihren Zimmertüren stehend an. „Sorry, die hat ihre Tabletten vergessen.“ – „Geht sie die jetzt holen?“ fragte Frank und verdrehte die Augen. Ich hatte einen mindestens 1000-fach erhöhten Adrenalinspiegel. Mein Herz raste, ich fühlte mich total zittrig. Aber ich war stolz darauf, mich selbst durchgesetzt zu haben.

Sowas hatte ich auch noch nicht erlebt. Dass jemand aus dem Nichts so explodiert – da ist wohl mal eine Therapie fällig. Aber dringend.


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