Ekel-Gabi

Nein. Es ist noch nicht zu Ende. Ich bin noch nicht in Hamburg. Ich
bin noch nicht aus meinem Luftkissenbett raus. Es steht noch kein Entlassungstermin fest. Aber: Seit gestern gibt es eine erste Tendenz. Wenn morgen mittag bei einer Untersuchung alles gut aussieht, darf ich eventuell bereits in ein bis zwei Wochen aus diesem Bett raus auf eine normale Station. Eventuell werde ich dann auch endlich wieder zurück nach Hamburg verlegt. Insgesamt wird es noch vier bis sechs Wochen dauern, bis ich wieder zu Hause bin. Die Ärztin meinte gestern: „Wenn alles gut läuft, sind Sie zum 1. Juli wieder zu Hause.“ Immerhin mal irgendeine Aussage.

Immerhin ist jetzt auch diese blöde Intensiv-Überwachung ab. Zuletzt war ohnehin nur noch ein Clip am Finger, der Puls und Sauerstoffsättigung gemessen hat, dran, aber der darf seit Montag abend auch wegbleiben.

Außerdem habe ich seit dem Wochenende eine neue Mitbewohnerin in meinem Zimmer. Die primitive Frau ist endlich raus, endlich schnarcht nachts auch keiner mehr, und für einen Moment sah es so aus, als wenn ich Lena (das ist das Mädel von nebenan) auf mein Zimmer bekommen würde.
Aber dann entschied man sich doch, mir eine Neuaufnahme reinzulegen. Sie heißt Gabi und ist 29 Jahre alt. Was ihr fehlt, weiß ich nicht genau, ich glaube, es hängt mit irgendeiner Bandscheibe zusammen, die im
Halswirbelbereich auf irgendeinen Nerv drückt. Zumindest zeitweise. Was
ihr aber auf jeden Fall auch fehlt, ist eine Grundkurs in der Benimmschule.

Ich bin ganz gewiss nicht zimperlich. Wenn meine Freundin kotzen muss, halte ich ihr den Kopf und helfe ihr. Was wir manchmal in der WG beim Essen für Themen besprechen, würde sicherlich manchen Leuten den Magen umdrehen. Auch wenn ich dabei einen gewissen Würgereiz unterdrücken muss, schaffe ich es, einer Freundin zu helfen, die mit dem
Zusammenspiel von Durchfall und Querschnittlähmung (+ Schließmuskellähmung) kämpft. Oder besser mit den Folgen in ihrer Hose. Dass ich mich mit mehr oder weniger häufiger Regelmäßigkeit selbst anpisse, dürfte meinen Lesern auch nicht entgangen sein. Ich will nicht sagen, dass das alles kein Problem ist, aber es ist eben auch nichts, worüber ich mich ernsthaft beschweren würde.

Aber Gabi … geht gar nicht. Ich habe sie inzwischen insgeheim schon Ekel-Gabi getauft. So etwas habe ich noch nicht erlebt, auch nicht in meiner Zeit der Reha nach meinem Unfall. Davon mal abgesehen, dass sie den ganzen Tag nur auf dem Bett liegt, auf der Seite, ein Buch lesend, den Kopf auf den Unterarm gestützt (kein Wunder, davon würde ich auch HWS-Beschwerden bekommen, wenn ich den Kopf ständig so abknicken würde, aber das ist ja nicht mein Problem), stellt sie sich regelmäßig neben meinem Bett an das Fenster, schaut raus, macht irgendwelche Dehnübungen für die Wirbelsäule und furzt dabei. Das an sich fände ich jetzt noch nicht so schlimm, zumal sie dasselbe von mir sagen wird, obgleich sie das im Gegensatz zu mir unter Kontrolle hat. Nur muss sie das jedes Mal kommentieren. Mit Ausrufen wie: „Boa!“ oder „Ahhh!“ oder „Uiii!“ oder „Hmmm!“ – oder mit ganzen Sätzen wie: „Huch tschuldigung, falsche Öffnung.“ Dann rülpst sie laut und sagt: „So ist es richtig.“ Und lacht dreckig. Du meine Güte!

Ständig kratzt sie sich im Schritt oder am Hintern. Trägt so grau-pinke Jogging-Hosen und Badeschlappen. Ist keineswegs hässlich, hat
eine gute Figur. Aber lässt sich ohne Ende gehen. Sie benutzt keine Taschentücher. Sie formt eine Hand wie ein Gefäß, krümmt die Finger etwas, als würde ihr jemand einen Apfel in die Hand legen wollen, hält sich mit einem Finger das eine Nasenloch zu und rotzt aus dem anderen Nasenloch in die Hand. Als ich das zum ersten Mal gesehen habe, habe ich
sie entsetzt angestarrt. Und sie dann gefragt, ob sie ein Taschentuch haben möchte. Sie drehte sich dann im Bett um, mir den Rücken zu, fragte, ob ich mich mal um meinen eigenen Scheiß kümmern könnte, und begann, mit spitzen Lippen die Rotze aus der Handfläche zu schlürfen. Lecker!

Als ich gestern mit Cathleen telefoniert habe und ihr das erzählt habe, während Gabi bei einer Untersuchung war, meinte sie nur: „Igitt!!!
Das ist ja schlimmer als unsere Rotzraketen beim Triathlon.“ Was auch immer besonders lecker ist, ist, wenn wir fernsehen und ich im Augenwinkel sehe, dass sie neben mir liegt und permanent in der Nase popelt und alles, was sie dort findet, in den Mund steckt. Cathleen meinte: „Biete ihr doch mal an, ob sie in deiner Nase weitermachen will.“ Es ist echt unbeschreiblich. Ich finde das so derart eklig, das ist kaum noch zu toppen.

Wäre da nicht die Toilette in unserem Zimmer. Ich darf nicht aufstehen, daher hat sie die ganz für sich alleine. Egal, ob das nun positiv oder negativ ist, kann man eigentlich beim Kacken nicht mal die Tür zu machen? Ich habe nicht das Bedürfnis, ihr Gestruller und das Geplumpse von irgendwelchen festen Ausscheidungen in den Tiefspüler live
mitzuerleben oder den Geruch, der dabei durchs Zimmer wabert. Schon gar
nicht, wenn sie das Bedürfnis immer dann überkommt, wenn wir gerade das
Mittagessen auf das Zimmer bekommen. Spricht man sie darauf an, sagt sie: „Puppe, du hast Sendepause. Du musst noch viel lernen. Wenn Kuchen da ist, dürfen sich die Krümel freuen, wenn sie nicht weggefegt werden. Wärest du in einer großen Familie groß geworden, wüsstest du mehr vom Leben.“ Sehr nett, vor allem, weil sie ja sieht, wieviele Eltern mich hier besuchen.

Zähne hat sie bisher noch nicht einmal geputzt, Parodontose lässt auch schon grüßen. Man sieht es wirklich. Immerhin duscht sie jeden Tag und wäscht Haare. Morgens, noch vor dem Frühstücken. Muss ich noch erwähnen, dass man, während sie morgens im Bad ist, nicht einmal die Klospülung hört? Vermutlich wird man paranoid, wenn man hier liegt.

Um aber mit etwas positivem abzuschließen: Mit Lena verstehe ich mich
inzwischen richtig gut. Wir haben bereits Adressen ausgetauscht, sie hat mich ihrer Mutti vorgestellt *g* und wir machen ganz viel zusammen. Was man halt so gemeinsam machen kann, wenn einer permanent im Bett liegen muss.

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