Im Moment gehe ich noch davon aus, übermorgen nach Hamburg zurück zu kommen. Ab 12 Uhr soll der Krankentransport kommen, um 16 Uhr soll ich in Hamburg sein. Wie sie das schaffen wollen, ist mir zwar ein Rätsel, aber ich muss ja nicht fahren. Außerdem ist es so, dass der Chefarzt wohl offiziell doch noch nicht zugestimmt hat (erst hieß es, er
habe zugestimmt und auch schon unterschrieben, nun heißt es wieder, er habe noch nicht zugestimmt), laut Oberarzt sei das aber nur eine Formsache. Was freu ich mich, wenn ich endlich hier raus bin!
Der heutige Tag war wieder erste Klasse. Ich darf ja nun stundenweise
aufstehen und brauche seit heute mittag auch diese Startrek-Klamotten nicht mehr tragen (nachdem ich auf die Redshirts, die ich bis dahin noch
nicht kannte, hingewiesen habe, will man sich bemühen, die Kleidung künftig in mintgrün zu bestellen; allerdings war es ja mehr eine Tight als ein Shirt und zudem sehr dunkel, nämlich bordeauxrot, so dass ich davon ausgehe, noch etwas länger leben zu dürfen), aber ich soll unbedingt darauf achten, dass mein Anti-Dekubitus-Sitzkissen im Rollstuhl korrekt aufgeblasen ist und ich keine Hosen trage, die im Gesäßbereich oder an der Oberschenkel-Rückseite Falten werfen könnten. Und bitte weder Unterhosen noch Pampers drunter, meinte die Ärztin. Wenn
das meine Currywurst-Tante wüsste, dass ich mich ohne Unterwäsche unters Volk mische…
Ich war gerade auf dem Rückweg in mein Zimmer, um mich zur Entlastung
meiner Gesäßpartie (nicht -party) auf mein Bett zu legen, da brüllt mich die Schwester an, ob ich noch gesund sei, den Aufzug zu benutzen! Wenn der stehen bleibt und ich über Stunden fest hänge, bedeute das: „Arsch wund, nochmal 100 Jahre stationär!“
Da ich keine Hosentasche hatte, konnte ich dadrin auch keinen Stinkefinger ausfahren, sondern musste mich zusammenreißen. Soll ich etwa den ganzen Tag den Gang auf und ab fahren und die Spender mit dem Desinfektionsmittel zählen oder was?! Oder jeden im Vorbeifahren einmal betätigen und messen, wie weit sie sprühen, wenn man keine Hand drunter hält?! Wie kann man zum Dienstschluss nur so garstig sein!?!
Nach der Mittagspause war ich natürlich wieder draußen, bin auf dem Rückweg, stehe im Aufzug, die Tür schließt sich, der Aufzug fährt nach oben, hält auf meiner Etage – und Feierabend. Tür bleibt zu. Nein, oder?
Nix. Keine Reaktion mehr. Alle Knöpfe gedrückt, Tür-auf-Taste gedrückt,
nix. Und nun? Wie lange, sagte die Schwester, würde hier die Rettung dauern? Stunden?
Alarmknopf gedrückt, die Telefonzentrale meldet sich: „Stecken Sie im
Aufzug fest?“ – „Kann man so sagen.“ – „In welchem Aufzug?“ – „Nummer 24.“ – „Das ist schon das dritte Mal heute. In welchem Stockwerk?“ – „Zwo.“ – „Bitte?“ – „Zwei.“ – „Drei?“ – „Nein zwei.“ – „Ich schicke den Hausmeister rum. Bleiben Sie ruhig. Ihnen wird gleich geholfen. Sie brauchen keine Angst zu haben. Sie bekommen genug Luft und die Kabine kann auch nicht abstürzen.“ Gut, dass sie das sagt. Bis eben hatte ich darüber noch nicht nachgedacht.
Mein größtes Problem war gar nicht mal die Zeit, ich hatte mein Minutenkontingent für den Nachmittag noch lange nicht ausgeschöpft, selbst eine halbe Stunde eingeschlossen zu sein sollte meiner Haut nicht
übertrieben zusetzen, vor allem, weil es bisher auch alles gut verläuft. Nein, mein größtes Problem war, dass ich zurück wollte, um auf
die Toilette zu gehen. Ja, genau, da war es wieder, mein Problem. Thema
Nummer 1. Meine Blase machte sich bereits bemerkbar und ein drei- bis zehnminütiger Countdown hatte bereits begonnen. Immerhin hatte ich zum Mittag meine Tabletten genommen, so dass diese ihre Wirkung gerade voll entfalteten und vielleicht eher zehn als drei Minuten bedeuteten.
Während ich auf den Hausmeister wartete, überlegte ich mir, wie ich am besten dem sich anbahnenden Ereignis begegnen sollte. Möglichkeit 1: Einfach abwarten, was passiert. Hat den Nachteil, dass ich anschließend duschen, mein Sitzkissen neu beziehen, den Bezug waschen, das Innenleben
abspülen und desinfizieren, den Rollstuhl abspülen, die Polster trocknen, meine Klamotten auswaschen und dumme Fragen beantworten darf. Hat den Vorteil, dass es am wenigsten Empörung auslösen dürfte. Kann ja mal passieren, vor allem, wenn man im Aufzug eingeschlossen ist.
Möglichkeit 2: Auf den gepolsterten, abwischbaren, in der Kabinenwand
fest installierten Klappsitz umsetzen und dort abwarten, was passiert. Hat den Nachteil, dass ich anschließend duschen und meine Klamotten auswaschen muss. Hat den Vorteil, dass mein Rollstuhl trocken bleibt, denn ich würde mich natürlich von der Schwester mit einem abwischbaren Dusch-/Toilettenstuhl abholen lassen. Nobel geht die Welt zugrunde. Hätte aber den gravierenden Nachteil, dass, wenn in dem Moment, wo ich auslaufe, der Hausmeister die Fahrstuhltür öffnet … ja wie sieht denn das aus und wie soll ich ihm den Wasserfall erklären?
Möglichkeit 3: Hose bis zu den Oberschenkeln runterziehen, im Rollstuhl so weit nach vorne rutschen, dass … ihr wisst schon. Hätte den
Vorteil, dass ich nichts waschen müsste, hätte aber den Nachteil, dass ich erklären müsste, woher die Sauerei auf dem Fußboden kommt. Und wenn dann noch in dem Moment der Hausmeister die Tür aufmacht und Sandalen trägt…
Schiss-Socke bereitete sich mit Herzklopfen auf die Möglichkeit 1 vor. Aber, und das ist doch mal eine gute Nachricht, es kam nicht so weit. Nach nicht mal fünf Minuten gab es plötzlich Gepolter und Geklacker an der Tür, dann hatte der Hausmeister mit einem Dreikant die Tür geöffnet. Da der Aufzug direkt auf der Ebene stand, konnte ich so rausrollen. „Ich muss dringenst auf Klo“, sagte ich, bedankte mich noch kurz und war weg. Was für eine Erleichterung!
Gut, dass es nur fünf Minuten waren – und keine 100 Jahre, wie die Schwester noch vor wenigen Stunden prophezeit hatte.