Geplant ist, dass ich nächste Woche nach Hause entlassen werde. Wenn nicht noch wieder irgendwas dazwischenkommt, klappt das auch.
Zur Zeit geht es hier nur noch darum, die frisch verheilte Haut noch ärztlich zu überwachen und nach meiner langen „immobilen Phase“, wie die Sporttherapeutin es nennt, ganz gezielt Muskel- und Konditionsaufbau zu
betreiben. Das heißt: Ich bin verstärkt in ein Programm aus Krankengymnastik, Schwimmen, Sport, Gerätetraining und Massagen eingebunden. Die Therapeuten sagen, es sei deutlich zu erkennen, dass ich lange flach gelegen habe (ich merke das selbst natürlich auch), aber es sei auch sehr deutlich zu erkennen, dass ich vorher sehr intensiv Sport gemacht habe. Dadurch regeneriere sich der Körper erheblich schneller.
Wie alle frischen Querschnitte und wie alle Querschnitte, die mit einer Hautverletzung behandelt werden, musste ich mich auch nochmal wieder einem Aufklärungsprogramm unterziehen und mir in mehreren Vorträgen anhören, wie wichtig es ist, dass man auf seine Haut aufpasst. „Hauptsache Haut“ kann ich inzwischen vorsingen und ich finde es auch ein bißchen albern, dass ich nach nicht mal einem Jahr diesen ganzen Zirkus nochmal wieder mitmachen muss. Es war ja nicht meine Schuld, dass
ich diese Verletzungen bekommen habe. Aber immerhin weiß ich nun wieder, dass meine Haut die wichtigsten 2m² meines Lebens sind.
Ich liege zur Zeit mit Catharina in einem Zimmer. Sie ist 23, vom Pferd gefallen und durchläuft gerade die Phase der Niedergeschlagenheit und des sozialen Rückzugs. Während man, frisch verletzt, im Krankenhaus liegt, hat man, so meine eigene Erfahrung, so gut wie keine Vorkenntnisse über eine Querschnittlähmung. Wenn man sich endlich mit der eigenen Situation beschäftigt, schaut man in aller Regel auch nicht über den Tellerrand hinaus. Erst wenn man die Situation akzeptieren konnte und den Kontakt zu anderen Querschnitten, auch zu „neuen“ Frischverletzten, hat, beschäftigt man sich (oft) intensiver mit der ganzen Thematik. Insofern weiß und realisiert Catharina nicht, dass sie schon einen großen Weg in ihrer Bewältigungsarbeit zurückgelegt hat und ihre Niedergeschlagenheit und Zickigkeit eigentlich ein sehr gutes Zeichen sind. Mit der richtigen Therapie und der nötigen Hilfe von Mitmenschen, die sie akzeptieren und sie etwas pushen, ist sie nicht mehr weit davon entfernt, ihre Situation anzunehmen.
Wenn ich jetzt, nach gut einer Woche, mitbekomme, dass sie meine nervenaufreibenden Bemühungen der letzten Tage auch nur wenige Zentimeter auf einen richtigen Weg geschoben haben, bin ich sehr glücklich. Und heute schien es erstmals so.
Catharina liegt seit mehreren Wochen hier und war, als ich das Bett neben ihr bezog, absolut unerträglich. Absolut mies drauf, in einer völligen Scheiß-Egal-Haltung, ich bin das arme Würstchen und wenn du mich nicht ertragen kannst, dann schlaf doch auf dem Flur oder schieb mich raus. Jeder Wimpernschlag war mit theatralischem Leid verbunden und ihr ganzes Leben hatte keinen Sinn mehr. Sie war (und ist) in der Phase, in der mir damals die Schwestern den Namen „Stinkesocke“ gegeben haben. Weil (Stink-) Stiefel im Bett nicht erlaubt sind.
Sie sammelte die Tabletten, die sie eigentlich gegen ihre Blasenlähmung nehmen sollte, um sich damit eine Überdosis verpassen zu können. Und machte daraus auch kein Geheimnis. „Ich bring mich sowieso bald um.“ Das war der heutige Gipfel. Dass sie mir damit nur ein müdes Lächeln entlocken konnte, passte ihr nicht in den Plan. „Wann ist es soweit?“ – „Ich warte noch auf den passenden Moment.“ – „Mach es doch gleich, dann hast du es hinter dir.“ – „Wenn ich es jetzt mache, klingelst du nach den Schwestern.“ – „Ich kann auch solange ein Eis essen gehen, dann hast du deine Ruhe.“ – „Ja. Iss ne Kugel mehr, dann habe ich mehr Zeit.“ – „Willst du erst noch beten oder was?“ – „Nee, nur sicher sein, dass es auch gewirkt hat, bevor du wieder da bist.“ – „Ich lass mir ne Stunde Zeit. Wo ist dein Abschiedsbrief? Oder soll ich deinen Eltern mündlich was ausrichten?“
„Meine Eltern sind mir egal.“ – „Du ihnen aber nicht.“ – „Doch.“ – „Nein.“ – „Egal. Wenn ich tot bin, kriege ich das nicht mehr mit.“ – „Das stimmt. Und du machst es ja für dich, nicht für sie.“ – „Was?“ – „Na das Umbringen. Du tust das ja für dich. Nicht für sie. Man muss auch mal an sich selbst denken.“ – „Du nimmst mich nicht ernst oder? Ich mach das wirklich.“ – „Ich nehm dich ernst, nur was soll ich dazu sagen, Catharina? Wenn du dich umbringen willst, werde ich dich davon nicht abhalten können, ich kann ja schließlich nicht bis aufs Klo dir überall hinterher fahren. Wenn das jemand will, schafft er es auch. Selbst wenn es mir und den Ärzten und Therapeuten hier gelingt, dich einige Zeit davon abzuhalten, du wirst ja hier nicht Jahre lang liegen bleiben, und irgendwann hast du dann deinen Moment, in dem es keiner verhindern kann. Daher habe ich für mich – völlig rational – entschieden, Leute von ihrem Suizid nicht mehr abzuhalten. Wenn sie es tun wollen, finde ich es persönlich schade, dass sie ihr Leben wegwerfen, aber es ist ihre freie Entscheidung. Die muss ich akzeptieren.“
„Welches Leben denn? Was ist das denn für ein Leben mit einer Querschnittlähmung?“ – „Gute Frage. Willst du eine Antwort?“ – „Nein.“ – „Das ist konsequent. Schließlich willst du dich ja umbringen. Dann musst du es auch nicht mehr wissen.“ – „Genau.“ – „So, gibt es nun einen Abschiedsbrief? Du könntest deinen Eltern ja wenigstens mitteilen, dass sie nicht Schuld daran sind. Sie werden sich nämlich genau das die nächsten Jahre sonst vorwerfen. Und ihnen vielleicht schreiben, dass du sie lieb hast. Mir wäre es wichtig, dass meine Angehörigen verstehen, warum ich mich umgebracht habe.“ – „Mir nicht.“ – „Dann bist du ein ziemliches Arschloch. Dich kosten die drei Sätze keine zwei Minuten. Deine Eltern trauern um dich die nächsten Jahre. Zwei Minuten für einige
Sätze, die deinen Eltern, die dich aufgezogen haben und dich lieben, die nächsten Jahre ein kleines bißchen leichter machen. Und komm mir jetzt nicht mit dem Argument, deine frische Querschnittlähmung rechtfertigt das Arschloch-Sein. Da habe ich als ebenfalls Querschnitt ein Wörtchen mitzureden und meine Freunde, die auch Querschnitte sind und ebenfalls keine Arschlöcher, würden dir auch widersprechen. Weißt du, ich habe ja Verständnis dafür, dass es dir dreckig geht und jeder Gedanke irgendwie weh tut. Aber man kann sich auch ein bißchen Mühe geben, dem Leben eine Chance zu geben. Bevor man sich umbringt, kann man
zumindest mal versuchen, mit dem Leben klar zu kommen. Wenn du in drei Monaten mitkriegst, dass das nach wie vor alles keinen Sinn hat, kannst du immernoch in den Sack hauen. Aber dann musst du später wenigstens nicht mit dem Gedanken leben, du hättest nicht alles versucht.“
„Wenn ich tot bin, muss ich mit keinen Gedanken leben.“ – „Weißt du das? Aber das führt jetzt zu weit, ich weiß es auch nicht. Aber du wirst dir ein Leben lang Gedanken machen, wenn du dich vom Balkon fallen lässt und unten mit dem Hals zuerst in der Hecke aufkommst und hinterher dann als beatmeter Querschnitt nicht mal mehr die Chance hast, dir selbst die Schläuche zu ziehen, weil das einzige, was du noch bewegst, deine Augen sind.“ – „Ich mach das ja so, dass es klappt.“ – „Dann frag mal die Leute ein Stockwerk höher, die da liegen, weil sie es nicht geschafft haben. Die waren sich auch totsicher. Meinst du, ich krieg nicht mit, dass du deine Tabletten sammelst? Meinst du eigentlich, die Leute hier sind so blöde, dir Tabletten zu geben, mit denen du dich umbringen kannst? Meinst du eigentlich, du bist die einzige, die hier unter solchem psychischen Druck steht? Wach doch mal auf und kümmer dich mal um andere Dinge als um dein Selbstmitleid. Lern doch mal Leute richtig kennen und gib ihnen eine Chance, dich kennen zu lernen. Ich kriege nachher von zwei Mädels Besuch, eine ist in deinem Alter. Lass uns doch einfach mal zusammen ins Bistro rübergehen und was nettes essen, statt hier ständig diesen Kantinenfraß reinzuschaufeln und einfach bißchen quatschen. Paar Leute beobachten, einfach mal rauskommen. Gib dir selbst doch mal eine Chance.“
„Kein Bock.“ – „Du wirst von selbst nie Bock dazu haben. Aber dann liegst du hier in drei Monaten noch und starrst die Decke an. Gib dir doch einfach mal einen Ruck und mach was, wozu du keinen Bock hast, um diesen beschissenen Depri-Kreislauf zu durchbrechen.“ – „Ich schaff das aber nicht.“ – „Da rollst du fast von alleine hin. Das ist eine Fachklinik hier, da ist alles ebenerdig und mit Aufzügen ausgestattet. Du hast drei erfahrene Leute dabei und bist auf einem Krankenhausgelände.“ – „Ich habe doch nicht mal vernünftige Klamotten hier.“ – „Du wirst jawohl ein T-Shirt und eine Sporthose haben. Die anderen gehen da auch nicht im kleinen Schwarzen hin.“ – „Das ist alles lieb gemeint, aber ich bin doch überhaupt nicht mobil. Ich kann kaum Rollstuhlfahren, vielleicht kippe ich noch raus oder kriege Kreislaufprobleme oder meine Blase spielt verrückt und ich pinkel da vor allen Leuten unter den Tisch. Nein danke.“
„Wenn du deine Blasentabletten mal regelmäßig nehmen würdest, statt sie zu horten, würdest du auch nicht ständig alles vollpissen.“ Sie schluckte. Das hat gesessen. „Aber wenn das dein einziges Problem ist, ziehst du dir eine Windel an, dann läuft auch nichts unter den Tisch. Kreislaufprobleme und Rollstuhlfahren lasse ich nicht gelten. Du bist in Begleitung, was soll da passieren.“ – „Ich zieh doch keine Windel an, bin ich ein Baby?“ – „Nein, aber du sollst ja auch keine Babywindel anziehen, sondern eine für Erwachsene. Und jetzt pass auf, was du sagst und lass dir einfach mal einen guten Rat geben von jemandem, der auch mal in deiner Situation war und nicht mit ansehen kann, wie du dir das Leben schwer machst.“ – „Wenn mich das zu sehr anstrengt, hau ich sofort
wieder ab.“ Ach nee. – „Wenn dich das zu sehr anstrengt, schiebe ich dich höchstpersönlich wieder ins Zimmer. Versprochen.“ – „Du willst mich schieben? Du sitzt doch selbst im Rollstuhl.“ – „Was hat das damit zu tun? Ich zeig dir nachher, dass das geht.“
Während ich mein Laptop auf dem Schoß hatte, sah ich sie im Augenwinkel vor sich hinbrüten. Nach fünf Minuten klappte ich das Ding zu, setzte mich in den Rollstuhl um und sagte: „Ich hol mir jetzt ein Eis und melde uns vom Abendessen ab. Möchtest du auch ein Eis?“ – „Nee lass mal.“ – „Magnum?“ – „Oah!!! Willst du mich hier zu meinem Glück zwingen oder was?“ – „Also Magnum?“ – „Magnum. Damit du endlich Ruhe gibst. Das ist ja unerträglich.“ Grins. Meinetwegen bringe ich ihr auch ein Eis mit, damit ich endlich Ruhe gebe. Und wenn das Eis noch so scheiße schmeckt…
Um von meinem Zimmer zum Kiosk zu kommen, muss man einmal quer durch das gesamte Gebäude, durch unzählige (automatische) Türen und Gänge, Hin und Zurück sind das rund ein Kilometer Fahrstrecke. Da man etliche Male links-rechts-links-rechts abbiegen muss und die Türen meistens auch nicht so schnell öffnen, wird man als Rollifahrer ziemlich ausgebremst und muss sich mit seiner Geschwindigkeit sehr zurückhalten. Für die größten Heizer hängen in den Ecken schon Spiegel unter der Decke, damit man sehen kann, wen man hinter der Ecke gleich über den Haufen fährt. Trotzdem ist es eben keine Rennstrecke. Dennoch will ich nicht verschweigen, dass ich alles drangesetzt habe, um Catharina nicht unnötig lange alleine zu lassen. Ich war mir, ehrlich gesagt, nicht sicher, ob sie die Gunst dieses Momentes nutzen würde, um sich die ganzen Tablettenvorräte auf einmal einzuwerfen. Und umso erleichterter war ich, als ich beim Zurückkommen sah, dass sie es nicht getan hatte, sondern sich über das Eis freute. Grübelnd, zurückhaltend, aber sie packte es sofort aus und aß es.
Als wir fertig waren, fiel mir ein: „Ich wollte doch der Schwester das Essen absagen!“ Setzte mich nochmal in den Rollstuhl und rechnete mit Catharinas Widerrede. Sie kam nicht. Als ich im Schwesterzimmer ankam, fragte ich: „Ich kriege gleich noch Besuch von Cathleen und Sofie. Dürfen wir Catharina mitnehmen ins Bistro?“ – „Catharina?“ – „Ja.“ – „Catharina will mit?!“ – „Jaha!“ – „Ähhh… ja. In Begleitung darf sie, hat die Ärztin gesagt. Aber lasst sie bitte nicht alleine.“
Zurück im Zimmer interessierte sich Catharina sofort für das Ergebnis. Betont genervt fragte sie: „Und nun? Darf ich mit?“ – „Ich hab dich jetzt abgemeldet für das Essen hier.“ Sie nickte. Und schluckte.
Und dann war es irgendwann soweit und vier Rollifahrer eierten quer durch das Gebäude in Richtung Bistro. Eher in Schneckengeschwindigkeit, aber dennoch mit einem Ziel vor Augen. Vor seinem Zimmer begegneten wir dem Chefarzt. „Oh, auf Erkundungstour?“ – „Wir wollen das Bistro stürmen“, erwiderte ich. – „Das ist eine gute Idee. Ich habe gehört, die Croques kann man empfehlen. Und sie sollen guten Wein haben.“ – „Danke für den Tipp. Wir lassen uns überraschen. Schönes Wochenende!“
Als wir bestellt hatten, fing Sofie zu erzählen an, dass sie sich verspätet hatten, weil eine Familie sie mit ihrem Van zugeparkt hatten. Sie waren so nah an Sofies Autotür herangefahren, dass Sofie nicht mehr ins Fahrzeug kam. „Und was machst du dann?“ fragte Catharina interessiert. – „Polizei rufen, abschleppen lassen. In diesem Fall hat es sich gelohnt, da in dem Auto noch ein Rollstuhl-Parkausweis lag, der auf die verstorbene Mutter ausgestellt war. Den haben die Bullen gleich beschlagnahmt.“
Catharina machte große Augen. „Woher bekommt man eigentlich so einen Parkausweis?“ fragte sie. Wie gesagt, sie ist nicht mehr weit davon entfernt, ihre Situation anzunehmen. Ich wünsche ihr, dass sie es packt.
Wenn ich sie in einem Jahr oder in zwei Jahren wiedersehen würde als einen lebensfrohen Menschen, der seine Behinderung akzeptiert hat und mit ihr irgendwie zurecht kommt, könnte es meine Einladung ins Bistro gewesen sein, die sie auf diesen Weg gebracht hat. Ich weiß zwar, dass sie in der nächsten Woche vielleicht durch etwas anderes ebenso auf den richtigen Weg gesetzt worden wäre; ich weiß auch, dass sie vielleicht noch wieder umfällt und der Weg vom Suizidgedanken zum lebensfrohen Menschen weiter ist als der ins Bistro; ich weiß aber auch, dass ich verdammt stolz darauf wäre, jemandem im entscheidenen Moment einen allerersten Lebenssinn zurückgegeben zu haben.