Ich weiß nicht, was wir verkehrt machen. Wir kommen keinen Schritt mehr weiter. Auch wenn seit heute Ferien sind, geht mir eine Sache nicht aus dem Kopf: Es geht dabei um Fatma, eine Rollstuhlfahrerin, die seit diesem Sommer an meiner Schule unterrichtet wird. Sie spricht wegen ihrer Behinderung, ich vermute, es ist ein so genannter frühkindlicher Hirnschaden (Zerebralparese), etwas langsam und undeutlich, dafür aber eher laut. Sie wirkt auf mich sehr intelligent, sie spricht perfekt Deutsch – aber sie hat die gesamte Zeit ihre Mutter dabei, die sich mit ihr ausschließlich in türkischer Sprache unterhält.
Ja, richtig, die Mutter sitzt im Unterricht permanent neben ihr. Die Mutter ist, von einem Sehschlitz abgesehen, total verhüllt (Çarşaf), Fatma ist ebenfalls von den Knöcheln bis zur Haarspitze verhüllt, jedoch schaut bei ihr das ganze Gesicht raus. Die Mutter ist dabei, weil Fatma angeblich nicht ohne Assistenz zurecht kommt. Die Mutter schiebt sie, reicht ihr jeden Stift, jedes Lineal, führt ihr sogar das Glas mit dem Wasser zum Mund. Obwohl ich glaube, dass die meisten meiner Leser wissen, dass ich mich für äußerst tolerant und offen halte, möchte ich noch einmal betonen, dass es mir absolut egal ist, wie sich jemand kleidet. Sicherlich finde ich das eine besser, toll oder passend und das andere unvorteilhaft, albern, geschmacklos oder noch ganz anders, aber letztlich muss das jeder für sich selbst entscheiden. Genauso muss auch jeder für sich entscheiden, ob er sich aus religiösen oder anderen Gründen verhüllen will, ein Kopftuch oder einen Schleier tragen möchte. Drei andere Schülerinnen aus meinem Jahrgang tragen ebenfalls Kopftücher, daran stört sich auch niemand. Ich möchte mir auch keineswegs anmaßen zu beurteilen, ob jemand in der Schule Assistenz benötigt oder nicht. Es gibt genügend Menschen mit Behinderung, die ihren Zivi mit in die Schule bringen oder ohne persönliche Hilfe gar nicht zurecht kämen.
Fatma allerdings scheint dermaßen unter dieser Situation zu leiden, dass ich ihr gerne helfen möchte. Sicherlich kann ich nicht die ganze Welt retten. Aber ich habe nicht nur das Gefühl, sondern einen erheblichen Verdacht, dass sie sehr leidet und permanent unterdrückt wird. Zum Beispiel dürfen Mitschüler nicht mit Fatma sprechen. Sobald jemand sie anspricht, faucht die Mutter dazwischen. Fatma selbst redet nur, wenn sie vom Lehrer gefragt wird. Jede Pause schiebt die Mutter sie raus, geht mit ihr auf die Toilette, zum Unterricht sind beide wieder da. Es ist eine absolut erdrückende Situation, wenn Fatma (und Mutter) in meiner Nähe sind.
Ich bin mir sehr sicher, dass das Mädchen sehr viel selbständiger sein könnte. Keine Frage, es ist toll, wenn sich jemand intensiv um sie kümmert. Aber es kann doch nicht sein, dass sie keine eigenen Kontakte aufbauen darf, dass sie nicht mal mit irgendwem kommunizieren darf, ohne Angst haben zu müssen. Wie soll so ein Mädchen ein Abitur, eine Reifeprüfung, ablegen? Die Lehrer scheinen mit der Situation überfordert zu sein, tun mal wieder so, als wäre alles in Ordnung, und schauen weg. Letztlich würde wohl auch zu viel Druck nichts bringen, denn ich fürchte, dann würde Fatma aus der Schule genommen oder auf eine andere Schule geschickt werden.
Kürzlich hat eine Mitschülerin (eine von den drei Kopftuch-Trägerinnen) versucht, mit der Mutter zu sprechen. Auf türkisch, sehr freundlich. Sie hat wohl auch drei Sätze gesagt, allerdings nur belangloses Zeug. Die Mitschülerin hat den Eindruck, dass die Mutter auch massiv unter Strom steht. Sie hat dann gefragt, ob sie nicht mal mit Fatma zusammen lernen darf. Sie würde gerne Hausaufgaben mit ihr zusammen machen oder für Klausuren üben. Nein, nichts zu machen. Ich habe die Mutter schon gefragt, ob Fatma nicht mal an einem Mobilitätstraining teilnehmen will – nachdem ich Fatma das nicht fragen durfte. Damit sie wenigstens mal lernt (so habe ich das natürlich nicht ausgedrückt), wie man Rollstuhl fährt. Keine Chance. Wir alle sind mit unserem Latein am Ende und höchst unzufrieden. Absolut ätzend!