Fünf Promille sind manchmal nicht viel

Heute war ich auf dem Rückweg von meiner Psychotherapie, stehe in Bergedorf vor dem Aufzug zum Gleis und wer kommt in dem Moment mit der Kabine nach unten gefahren? Der Leiter der Rollstuhlsport-Abteilung meines Vereins, den ich schon bei einigen Seminaren und Vorträgen kennen gelernt habe. Er wusste gleich, wer ich bin, begrüßte mich und sagte: „Schön, dass ich dich sehe. Hast du gerade mal zwei Minuten?“ Na klar. Er erzählte mir, dass er noch ganz spontan eine Sportlerin für einen Termin in zwei Stunden bräuchte. Aus meiner Triathlon-Sparte hätte jemand abgesagt.

„Zeit hätte ich. Brauche ich dafür Sportsachen oder Sportgeräte?“ – „Nein, im Gegenteil. Ich muss mir noch eine Krawatte raussuchen. Ich habe nur zwei. Aber die passen beide nicht. Ich hasse sowas. Es geht um die Unterstützung von behinderten Sportlern durch die Stadt. Ich habe einen Termin mit ein paar öffentlichen Geldgebern und bräuchte ein paar Sportler quasi als Vorführmodelle. Ich hätte fast ‚zum Anfassen‘ gesagt,
aber das stimmt natürlich nicht.“

Vorführmodelle? Zum Anfassen? Er ist immer so direkt. Ich bin weder gut, noch lange dabei, noch kann ich viel über die Sportart erzählen, geschweige denn ist mein Name schonmal groß irgendwo aufgetaucht. „Sind da nicht andere Leute besser geeignet?“ Er schüttelte den Kopf. „Für das, was ich vorhabe, bist du die Beste. Ich glaube, es ist von irgendwoher so gewollt, dass du mir hier über den Weg fährst. Also du hast Zeit und Lust, das finde ich gut, wir treffen uns in zwei Stunden am Bahnhof Sternschanze und fahren von dort aus zusammen dorthin?“ Und dann sah er mich an, dass ich nicht „Nein“ sagen konnte, obwohl mir die ganze Rückfahrt nach Hause lang nur ein Gedanke im Kopf herumschwirrte: „Was hast du dir da bloß eingefangen?“

Aber ich mag ihn auch sehr gerne und ich vertraue ihm eigentlich. Nein, nicht nur eigentlich. Ich vertraue ihm. Krawatte? Hoffentlich muss ich nicht noch irgendwas bügeln! Ich entschied mich für eine schwarze Stoffhose, schwarze Halbschuhe, ein weißes Damen-Oberhemd, einen schwarzen Nadelstreifenblazer und eine silberne Halskette. Ich fand ja immernoch, dass Leute, die viel länger dabei sind, wesentlich besser geeignet wären, aber wenn er unbedingt mich haben wollte … bitte. Sonst trage ich Haare fast nie offen, aber um die noch hochzustecken, blieb keine Zeit. Und nix mit Bahnfahrt – ich kramte mein Auto aus der Tiefgarage. Das andere hätte ich zeitlich nicht geschafft und vor allem wollte ich mir nicht erst irgendwo die Klamotten einsauen. Per Handy sagte ich ihm Bescheid und erfuhr den genauen Treffpunkt.

Das Haus lag an einer großen Straßenkreuzung. Sieben Spuren längs, fünf Spuren quer. Und mittendrin die Stinkesocke auf Parkplatzsuche. Vor dem Haus, in dem das stattfinden sollte, waren zwei Behindi-Parkplätze.
Einer war frei. Und ich kam auch gerade aus der richtigen Richtung. Attacke! Ich blinkte rechts, wollte rückwärts einparken, da steigt der direkt vor mir in die Eisen, hat den Parkplatz auch gerade gesehen und wollte direkt vor mir auch rückwärts einparken. Hatte der einen Behindertenausweis? War nicht zu sehen. Aber es war ein alter Kombi und hinten drin lag ein Kühlschrank oder eine Waschmaschine oder ähnliches. Ich entschied, dass der wohl keine Parkberechtigung haben würde und fuhr ihm bis auf 20 Zentimeter auf und blieb dort stehen. Immernoch rechts blinkend. „Mein Parkplatz.“ Hätte er jetzt das Fenster rutergekurbelt und einen Ausweis rausgehalten oder anders deutlich gemacht, dass er dort stehen dürfte, wäre ich weiter gefahren. Immerhin war er zuerst da.
Aber so? Ihn einparken lassen und dann lange diskutieren? Nö.

„Hoffentlich ist das niemand, der auch zu der Sitzung will“, dachte ich noch. Aber Krawattenpflicht und dann mit Kühlschrank im Auto? Auch nö.

Er fing an zu hupen. Rückwärtsgang rein, Rückwärtsgang raus, Licht an, Licht aus, 10 Mal nacheinander. Dann ging die Scheibe runter. Ich machte auch mein Fenster auf. „Ey Fo**e! Wenn du nicht Auto fahren kannst dann lass Papas Karre gefälligst in der Garage stehen. Ich will hier einparken. Also sieh zu, dass du deine Dreckskarre da weg kriegst. Ich fahr jetzt einen Meter vor und dann fährst du da weg, kapito?“

„Haben Sie denn auch einen Parkausweis?“ fragte ich zurück, betont freundlich. Er zog die Handbremse an, schnallte sich ab, kam aus dem Auto. Da meine Zentralverriegelung ohnehin immer zu ist während der Fahrt, musste ich nur noch das Fenster schließen. Ich drückte meinen Parkausweis von innen gegen das Seitenfenster und schaute ohne eine Miene zu verziehen nach vorne. Er baute sich vor meiner Tür auf und rüttelte an meinem Türgriff. Pöbelte irgendwas mit Alder, Digger und Fo**e. Schlug mit der Faust gegen meine Scheibe. Es rummste einmal. Dann rotzte er einmal dagegen, stieg wieder in sein Auto und fuhr weg.

Ich merkte mir für alle Fälle das Kennzeichen, falls später meine Außenspiegel fehlen würden oder die Reifen zerstochen sind… Auf dem Gehweg standen einige Leute, die sich das Spektakel mit angesehen hatten. Einer davon wollte mir anzeigen, wie viel Platz ich noch zum Rangieren hatte. Was ich in der Rückfahrkamera allerdings noch viel besser sehen konnte. Nun noch im fließenden Verkehr den Rollstuhl zusammenbauen und aussteigen… Der ältere Herr kam um mein Auto herum und sagte: „Das ist schon sagenhaft, was man sich manchmal gefallen lassen muss! Aber Sie haben so toll eingeparkt. Ich war früher mal Fahrlehrer. Damals waren die Sitten noch nicht so rau und die Autos noch nicht so groß. Sie müssen sich mal so eine Rückfahrlinse hinten in die Scheibe kleben, dann können Sie genau sehen, ob sich etwas dahinter befindet! Nur so als Tipp! Auf Gefühl fahren ist immer sehr gefährlich!“

„Ich habe eine Rückfahrkamera, da kann ich alles bestens erkennen.“ – „Die ist doch sehr teuer!“ – „Rentiert sich aber schon in dem Moment, wo man den ersten Poller nicht umfährt.“

Als ich im vierten Stock endlich ankam, waren bereits gefühlte zehn Leute in dem Raum. Unter anderem unser Chef. Drei Sportler kannte ich aus dem Verein, ein Typ im Anzug saß am Fenster und sortierte irgendwelche toten Wespen, die da zu Dutzenden auf der Fensterbank lagen, ein anderer hackte wild mit einem Stick auf seinen Organizer ein und ein dritter las in seinen Unterlagen und knackte mit den Fingern. Ich sagte einmal laut „Guten Tag“ und bekam das auch von allen erwidert.
Über der Tür dröhnte eine Klimaanlage. Zum Glück war ich nicht overdressed. Hinter mir kamen noch zwei ältere Frauen in den Raum, redeten wie zwei aufgeschreckte Hühner über irgendeine Schiffsreise. Wieviele kommen noch?

Auf dem Tisch standen etliche Mini-Getränke-Flaschen und Gläser. Der Platz neben unserem Chef war noch frei. Er unterhielt sich gerade mit einer Sportlerin, die auf der anderen Seite neben ihm saß. Während ich „einparkte“, drehte er sich zu mir, gab mir die Hand. Ich flüsterte ihm zu: „Muss ich die alle einzeln begrüßen?“ Er schüttelte den Kopf und flüsterte zurück: „Nur wen du kennst. Gibt gleich eine Vorstellunsrunde.“ Auch das noch! Ich hasse es, vor Gruppen zu reden.

Es war erstmal harmlos. Ein alter Mann eröffnete diese Sitzung, bat alle, kurz zu sagen, wer man ist und in welcher Funktion man heute hier ist. Unser Chef flüsterte mir zu: „Sag einfach nur, du bist Jule, 18 Jahre alt, Schülerin und Rollstuhlsportlerin. Das reicht.“ Ich nickte.

„Wollen Sie denn gleich anfangen?“ fragte er ausgerechnet mich. Mit Puls 200 betete ich den Satz nach, den ich gerade vorgekaut bekommen hatte. Der nächste war dran. Jetzt bloß keinen Stuss labern, nicht stottern, nicht pupsen und keine Gläser umwerfen. Hatte ich eigentlich eine Pampers um?! Ich überlegte das wirklich. Ungefähr so eine Überlegung wie die mit der ausgeschalteten Herdplatte. Nur dass bei mir kein Zwang draus wird, weil ich ja schlecht vor allen Leuten 30 Mal kontrollieren kann, ob es denn so ist…

Da ich schon sehr viel geschrieben habe, verkürze ich an dieser Stelle mal. Es ging im wesentlichen darum, wie man behinderte Sportlerinnen und Sportler, die eine gute Perspektive haben, sportlich erfolgreich zu sein oder zu werden, angemessen fördern kann. Mein Einsatz kam fast sofort. Nämlich als eine der beiden alten Damen, die eben noch über Kreuzfahrt philosophiert hatten, meinte, sie hätte so ihre Probleme, Behindertensport als Leistungssport anzuerkennen. Den genauen Wortlaut und den Vergleich, den sie gezogen hat, darf ich hier nicht öffentlich wiedergeben.

Aber es ging mehr als ein Raunen durch die Runde. Unser Chef ergriff das Wort. „Frau …, für eine ähnliche Äußerung ist vor vier Jahren ein weltweit erfolgreicher Triathlet ohne Vorwarnung aus seinem Team ausgeschlossen worden. Und irgendwann bricht es Ihnen auch nochmal das Genick. Ich höre mir dieses Störfeuer aus Ihrem Sumpf nun schon seit einigen Jahren an und frage mich immer wieder, wieso niemand der Verantwortlichen den Mumm hat, Sie zu feuern.“ Sie grinste nur siegessicher. „Immerhin hätte er all diejenigen Hamburger hinter sich, die unsere durchaus erfolgreichen Sportlerinnen und Sportler, die bei den Paralympics waren, weil sie teilweise ebenfalls Jahrzehnte hart trainiert haben, dort nicht gewonnen haben, weil eine andere Nation besser war und härter trainiert hatte, zu Hamburgs Sportler einzelner Jahre gemacht haben. Und ich gebe zu, das passierte in den letzten 10 Jahren ungewöhnlich oft. Aber das Votum spricht wohl für sich. Hamburg ist eine Hochburg des Behindertensports, insbesondere des Rollstuhlsports. Und darauf sind viele Hamburger stolz. Auch wenn die Hamburger Tagespresse nach wie vor nicht mal einen Weltmeistertitel erwähnt. Auch wenn Stadt und Land gerade mal 5 Promille ihrer jährlichen Sport-Ausgaben in den Behindertensport investieren. Und 99,5% in andere Sportarten.“

Mir fiel fast das Kinn runter. Ein halbes Prozent für den Behindertensport? Ja, ich hatte richtig gehört. Irgendeiner machte einen Scherz über 5 Promille Alkohol, die ja manchmal schon recht viel sein könnten, aber das wurde gekonnt überhört. „Fünf Wirtschaftsunternehmen, die sich für den Behindertensport in Hamburg begeistern, zahlen das 20-fache der öffentlichen Mittel, um die Spitzensportler zu unterstützen. Ein großer, millionenschwerer und gewinnorientiert handelnder Sportverein mit über 70.000 Mitgliedern in Hamburg unterstützt den Behindertensport in seinen eigenen Reihen jährlich freiwillig und mit großem Stolz mit dem achtfachen dessen, was Stadt und
Land dem gesamten Hamburger Behindertensport geben wollen.“

Die Frau, der ich am liebsten ins Gesicht gesprungen wäre, meldete sich noch ein letztes Mal zu Wort und stellte den Stolz in Frage. Ich darf es öffentlich nicht wörtlich wiederholen, aber es war aus meiner Sicht weit unter der Gürtellinie. Man könnte schon fast denken, sie sei neidisch, dass mehr paralympische Athleten mit Medaille aus Peking nach Hamburg zurückkehrten als olympische. „Ja, Stolz“, führte unser Chef aus. Gerade vor zwei Monaten habe ein offizieller Vertreter jenes Vereins in der Vereinszeitung, die ihm auch zur Verfügung stünde, zu einer erfolgreichen Veranstaltung im Behindertensport geäußert: „Wir sind stolz auf unsere Sportler!“ Sämtliche Paralympics-Sieger seien zu Ehrenmitgliedern erklärt worden (zuletzt gab es Ehrenmitgliedschaften aus sportlichen Gründen in der über 100-jährigen Vereinsgeschichte vor über 40 Jahren) und vom Boss des Clubs persönlich bei einer Sportveranstaltung im Stadion vor zehntausenden Fans geehrt worden. Ein klares Bekenntnis zum Behindertensport, ein klarer Ausdruck von Stolz auf die erreichten Leistungen.

Dann wurde ich gebeten, zu erzählen, wie ich zu meinem ersten Triathlon-Trainingslager gekommen bin. Ich fasste meinen Blog in 5 Minuten zusammen. Die drei männlichen Krawattenträger, die mir gegenüber saßen, saßen da mit weit geöffneten Augen und starrten mich an, als ich von der Oma erzählte, die mich erziehen wollte und mich umgefahren hat, von 12 Monaten im Krankenhaus und in der Reha. Dass ich über den Sport eigentlich wieder zurück in den Alltag gefunden habe. Meine Freunde kennengelernt habe, meine Wohnung gefunden habe, gelernt habe, mit meiner Behinderung zu leben. Ohne den Sport … jetzt mal ganz ernsthaft … ich weiß nicht, wo ich heute sein würde. Auch wenn ich gerade mal außerhalb jeder Konkurrenz einen halben Triathlon geschafft habe.

Mein „Chef“ ergriff wieder das Wort. Behinderung sei hauptsächlich wegen Deutschlands Vergangenheit immernoch ein sehr sensibles und schlecht zu vermarktendes Thema. Es bessere sich zusehends. Aber eine angemessene Breite sei noch lange nicht erreicht. Man müsse bereit sein zu erkennen, dass sportlicher Wettkampf eine solche Kraft hat, dass er selbst Menschen, die wir vor 30 Jahren noch versteckt hätten, zu kleinen
und großen Helden machen kann. Und zu Ehrenmitgliedern von millionenschweren Vereinen. Zu Sportlern des Jahres. Der Lebenssinn eines olympischen Goldmedaillengewinners liegt im Sport. Sonst würde er nie Weltbester werden können. Der Lebenssinn eines paralympischen Teilnehmers liegt ebenfalls im Sport. Alle weiteren Gedanken, ob ein- oder zweideutig, könne sich jeder selbst machen. Und dann noch einmal darüber nachdenken, ob die öffentliche Hand wirklich ihrer Verantwortung gerecht wird, wenn sie für die Entwicklung des Behindertensports (und nur darum geht es, um die Weiterentwicklung, um das Anstoßen neuer Dinge) gerade mal 5 Promille im Sport-Etat eingeplant hat.

Als ich wieder zu meinem Auto kam, waren alle Spiegel noch dran, alle Reifen noch ganz und kein Kratzer im Lack. Wenigstens eine erfreuliche Sache. Dass keine weiteren Gelder fließen werden, es bei den 5 Promille bleibt, diese dem allgemeinen Trend entsprechend noch eher gekürzt werden, muss ich wohl nicht erwähnen. Es hat nicht das gebracht, was ich glaube, was unser „Chef“ sich davon erhofft hatte. Aber ich denke, es war nicht umsonst. Er sagte, es sei der Versuch gewesen, auf „Arbeitsebene“ etwas zu erreichen, was auch immer das heißt. Ich glaube,
dass es heißt, dass die Keule in Kürze von jemand anderem auf höherer Etage kommt. Ob das dann was bringt?

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