Leistungsdiagnostik in Hannover

Normalerweise kann ich Egoisten nicht verstehen. Normalerweise sage
ich immer, dass ich mich als Egoistin nicht wohlfühlen würde. Heute ist
ein Tag, an dem ich den einen oder anderen Egoisten verstehen kann.

Es fing alles ganz harmlos an. Einige Sportler waren zu einem Sichtungstraining nach Hannover eingeladen worden. Um 9 Uhr sollten wir startklar in der Halle stehen, also hatten wir (Cathleen, Yvonne, Kristina, Merle und ich) erst überlegt, ob wir bereits gestern abend hinfahren und dort schlafen. Als Egoistin hätte ich das gemacht. Aber ich habe auf andere Rücksicht genommen, die gestern noch bis spät abends
wichtige Termine hatten.

Andere waren in diesem Fall Leute aus Niedersachsen. Vier Bremer hatten gestern abend in Hamburg einen Termin und suchten noch eine Mitfahrgelegenheit, ein Mädchen aus Kiel ebenfalls. Zwei der Bremer und das Mädchen aus Kiel waren mit dem Zug nach Hamburg gekommen, zwei weitere Bremer mit dem Auto: Im Opel Omega Kombi war die Rückbank umgeklappt, um das ganze Equipment mitzukriegen, also verblieben nur noch zwei Sitzplätze.

Kristina fuhr mit ihrem Auto und wollte Merle mitnehmen und eine der beiden Bremerinnen. Das ging nur so, da diese Bremerin noch ein paar Schritte laufen konnte. Dadurch mussten in Kristinas Passat Kombi nur die ganzen Sportrollstühle und kein Alltagsstuhl. Nur so blieb hinten ein einzelner Sitzplatz frei – dann war das Auto bis unter das Dach voll.

Die Kielerin und die zweite Bremerin sollten bei mir mitfahren, genauso wie Cathleen und Yvonne. Ein hinterer Einzelsitz musste auch bei
mir draußen bleiben, sonst hätten auch wir nicht alles mitbekommen. Die
Sportstühle der Bremer waren alle im Omega, die der Hamburger im Vereinsbus, der völlig separat fuhr – somit mussten also nur die Alltagsstühle von Cathleen, der Kielerin, der Bremerin und mir (Yvonne kann paar Schritte laufen), das Bike und der Rennrollstuhl der Kielerin sowie sämtliche Klamotten in mein Auto. Was für eine Materialschlacht!

Wir hatten gesagt, wir treffen uns alle um 5 Uhr in Altona. Dann sind
Fußgänger dabei, die die Fahrzeuge vollpacken können. Ich muss nicht freiwillig als Querschnitt die ganzen sperrigen Sportgeräte verladen. Da
bin ich dann doch mal egoistisch… Yvonne hat bei uns in der WG geschlafen, also fuhren wir um 4.45 Uhr bei uns zu Hause los. Um 4.50 Uhr klingelt mein Handy, die Bremerin, Steffi, ist dran. Sie stehe jetzt
an der Haltestelle Elbgaustraße, ob wir sie einsammeln könnten. Sie habe verschlafen und irgendwie fahren um diese Zeit noch nicht so viele S-Bahnen…

Also einen U-Turn auf der sechsspurigen Kieler Straße, zurück zur Elbgaustraße. Dort am vorderen Ende der Busspur gehalten, hintere Schiebetür auf, sie solle auf einen Sitz rüberkrabbeln, ihren Rolli reinziehen, sich anschnallen, Tür zu. Alles weitere machen wir in Altona. Nö, sie könne nicht hinten sitzen, da werde ihr schlecht. Auch nicht für zehn Minuten. Wenn ich wolle, dass sie mir das Auto vollkotzt,
könnten wir das gerne machen, sonst bestehe sie drauf, vorne zu sitzen.
Und dann lachte sie, als wenn der unmögliche Tonfall nur Spaß wäre. Sowas um kurz vor 5 auf nüchternen Magen!

Also krabbelte sie auf einen hinteren Sitz, zog den Rolli rein, aber dann musste Cathleen erstmal nach hinten klettern, sich bei Yvonne auf den Schoß setzen, damit Steffi nach vorne klettern konnte. Und dann mussten sich Yvonne und Cathleen wieder entknoten. Das dauert bei Querschnittgelähmten nunmal gefühlte fünf Minuten. Da schon alle Türen zu waren, ahnte auch der Busfahrer, der hinter uns kam, nicht, dass es noch länger dauern würde, fuhr bis auf 10 Zentimeter auf und startete ein Hupkonzert. Samstagmorgen um 5, wenn noch alles schläft. Und Steffi pöbelte aus dem Fenster zurück: „Ey du hast jawohl ein Rad ab, mach nicht so einen Lärm, wir sind behindert, ja?“ Oh. Mein. Gott.

Dann kamen wir endlich los, Steffi beschwerte sich noch, dass der Sitz unbequem sei und sie nicht wisse, wie oft sie eine Pause brauche, dass in Hamburg auch um 5 Uhr schon Ampeln in Betrieb seien und überhaupt. Da in der Alsenstraße zur Zeit gebaut wird, mussten wir parallel über Kaltenkirchener Platz fahren, was aber um diese Zeit genauso schnell ging. Direkt am Bahnhof Altona kamen wir aus einer Seitenstraße auf den Parkplatz (Paul-Nevermann-Platz), dort war nicht nur ein abgesenkter Bordstein, über den wir fahren mussten, sondern auch
ein Vorfahrt-achten-Zeichen. Das steht allerdings rund 30 Meter vor der
Kreuzung und derjenige, der Vorfahrt hat, hat gar kein Verkehrszeichen.
Und derjenige, der dort in dem Moment kam, dachte, es sei rechts-vor-links und hielt an. Steffi brüllte mich laut an: „Nun fahr! Du hast Vorfahrt! Fahr doch endlich!“ Ich antwortete: „Er hat Vorfahrt. Aber wenn er nicht fährt, fahr ich jetzt tatsächlich.“ Und tastete mich langsam vor. Mir war der wartende Schrott-Golf nicht geheuer, nicht dass
der plötzlich Gas gibt und ich die Schuld habe. Aber es passierte nichts. Erstmal nichts.

Denn als wir am Treffpunkt ankamen, meinte Steffi, die uns durch ihre
blödsinnige Verschlaf-Aktion 15 Minuten Verspätung eingebracht hatte: „Tschuldigt die Verspätung, aber unsere Fahrerin hat ihren Führerschein noch sehr frisch.“ Ich dachte, ich höre nicht richtig. Ich erwiderte: „So langsam glaube ich, du bist nicht so ganz frisch. Noch so ein Spruch und du fährst mit der Bahn.“ – Steffi: „Hey, nun hab dich nicht so, ich hätte auch sagen können, das liegt daran, dass du behindert bist.“ Das sollte witzig sein?! Na, ich weiß nicht. Yvonne, die hinten angeschnallt auf ihrem Sitz saß, tippte sich gegen die Stirn.

Die Kielerin war sehr nett. Sie war mit gerade mal 16 Jahren die jüngste in unserem Auto, aber sie hatte eindeutig das bessere Benehmen. Obwohl ich das nie erwartet hätte, bekam ich sofort eine große Tafel Schokolade, in Geschenkpapier eingepackt, in die Hand gedrückt. Das sei fürs Mitnehmen, meinte sie. Ohne mich sei sie aufgeschmissen gewesen und
hätte nicht mitfahren können. Obendrauf waren vier Tankgutscheine über jeweils fünf Euro festgeklebt. Sie setzte sich in die zweite Reihe ans Fenster, schnallte sich an und war glücklich. „Ich kann noch was auf den
Schoß nehmen“, meinte sie, als die letzten Klamotten nicht mehr in den Kofferraum passten.

Um 5.45 Uhr kamen wir endlich los. Das Bremer Auto fuhr vorweg, dann ich, Kristina hinter mir. Wir kamen sehr gut durch und waren um 7.15 Uhr
bereits kurz vor Hannover. In Hamburg fuhren wir bei 5 Grad los, mehrmals zwischendurch piepte die Außentemperaturanzeige in meinem Cockpit, weil die Temperatur unter 3 Grad absank. Steffi regte sich schon auf, dass es Schwachsinn sei und nerve, sie wolle schlafen, ich erwiderte, dass man ja trotzdem vorsichtig fahren könnte. Sie sagte nur schnippisch: „Noch vorsichtiger?“ Ich hatte echt keinen Bock mehr auf die Frau, die mich permanent anzickte. Wieso fahre ich übervorsichtig, wenn ich hinter dem Bremer Omega hinterher fahre und der kein einziges Mal auf mich warten muss?

An einer Kreuzung mussten wir an einer roten Ampel warten, dahinter lag die Straße zwischen Feldern. Es war stockdunkel, Straßenlaternen standen nur an der Kreuzung, dahinter und auf den Feldern natürlich nicht. Ich wollte die Uhrzeit wissen und schaute auf mein Cockpit, als ich sah, dass die Außentemperatur -1.5 Grad betrug. Und die Straße war feucht. Die Ampel wurde grün, wir fuhren los. Der Omega vor uns war sehr
zügig unterwegs und … war der besoffen? Ähm – nein – der brach hinten aus! Erst nach rechts, dann nach links, dann wieder nach rechts, jedes Mal ein Stückchen mehr. „Was macht der denn?“ fragte Steffi. Ich vernahm
ein Klickern, dann flimmerte in meinem Cockpit ein großes gelbes Ausrufezeichen auf. ESP? Was ist hier los? Der Omega rauschte auf seinem
Schlingerkurs nahezu quer zur Fahrtrichtung mit dem Heck in einen Straßengraben, mähte einen Begrenzungspfosten um, wirbelte jede Menge Gras und Matsch hoch und knickte ein Ortsschild um, das ihn letztlich wieder auf die Fahrbahn schob.

Beim Bremsen merkte ich dann, was ich Sekunden vorher bereits befürchtet hatte: Die Straße war spiegelglatt. Es kam zwar halbwegs überraschend, aber das Anhalten war mit Winterreifen und ABS absolut kein Problem. Ich schaute vorsichtig in den Rückspiegel, aber Kristina hatte genug Abstand gehalten. Alles gut. Ich fuhr etwas auf den Grünstreifen und schaltete das Warnblinklicht ein. Auch wenn eigentlich nichts passiert war, war ich schon ziemlich zitterig und vieles hätte ich dafür gegeben, dass Steffi einfach nur die Klappe hält. Nein, sie öffnete ihr Fenster und brüllte raus in die dunkle Nacht: „Hast du abgefahrene Sommerschlappen drauf oder was?“ Dann drehte sie sich zu mir
und sagte: „Hat er aber guuuuut abgefangen. Echt. Guuuuut abgefangen.“ Und nickte 20 Mal, um sich das selbst noch zu bestätigen. Ich hätte ihr am liebsten ein paar Socken in den Mund gestopft. Was war daran gut abgefangen?!

Von hinten kam Kristina zu Fuß angewackelt. Sie hielt sich beim Gehen
schon an meinem Auto fest. „Das ist spiegelglatt hier!“ sagte sie. Steffi kommentierte weiter: „Du bist ja ein richtiger Blitzmerker!“ Auweia.

Wir beschlossen, den Omega samt seiner zwei Insassen alleine auf die Polizei warten zu lassen (wegen des Ortsschilds und vielleicht rufen die
ja auch mal den Streudienst) und vorsichtig weiter zu fahren. Was Steffi gar nicht recht war, denn ihre Sportstühle waren ja im Omega. Da mein Auto aber voll war, war mir das so ziemlich egal. Das einzige, was zur Debatte stand, war, ob ich sie im nächsten Ort raussetze und sie mit
einem Taxi weiterfährt… Aber ich bin ja nicht egoistisch (genug).

Es war wirklich nur die eine Stelle so glatt. Dahinter war wieder alles normal und als wir nach Hannover reinfuhren, hatten wir auch schon
wieder 4 Grad plus. Ich bin nur froh, dass es mich nicht erwischt hat. Egoistin. Immerhin hatte sich der Omega-Fahrer die komplette Beifahrerseite gebügelt mit der Aktion. Er meinte, das sei ein Totalschaden, bei dem alten Auto.

In der Sporthalle angekommen, wurden wir von Simone begrüßt, die schon seit gestern in Hannover war. Um Punkt 9 Uhr ging es los: Es sollte eine Leistungsdiagnostik auf einem Rollen-Ergometer stattfinden. So richtig mit Laktat(?)-Test, man wurde aufwändig verkabelt und musste über ein Mundstück mit Schlauch dran atmen. Das ganze Spektakel ging pro
Person über 30 Minuten und beinhaltete eine Aufwärmphase, eine Steigerungsphase mit mehreren Intervallen und zwei Höchstleistungsminuten kurz vor Schluss. Plus Ausfahren, anhalten, Ruhe.

Da „nur“ drei Ergometerplätze für insgesamt 18 Leute da waren, war der Vormittag entspannt. Die Leute, die ihr Equipment im deutlich verspäteten Omega hatten, waren zuletzt dran. Nach dem Mittagessen mussten wir im Nieselregen Handbiken. Die Leute mit den besten Perspektiven haben die Chance, in einen Bundesnachwuchskader zu kommen. Man werde schriftlich benachrichtigt. Ich rechne mir keine Chancen aus, die anderen Hamburgerinnen auch nicht, aber man kann es ja mal mitmachen
und hat vor allem dann auch eine gute Analyse, die man später zu Vergleichen heranziehen kann.

Der Tag war ansonsten recht nett, die Rückfahrt war auch entspannt, Steffi fuhr ja direkt mit dem ICE nach Bremen zurück, so dass wir auch wesentlich mehr Platz im Auto hatten. Die Kielerin warfen wir in Altona wieder raus. Sie blieb richtig nett und sie darf herzlich gerne wieder mitfahren, wenn sie mal wieder eine Gelegenheit sucht.

Eine Anekdote über Steffi muss ich aber noch loswerden, und ich warne
vor, es geht mal wieder um das Lieblingsthema einiger meiner Stammleser. Ich erzähle es trotzdem, kündige aber gleichzeitig an, Fetisch-Kommentare gleich zu löschen. Also genießt es einfach und spart euch die Mühe. Über alle anderen Kommentare freue ich mich selbstverständlich, wie immer.

Also: Steffi steht auf diesem Ergometer, das sind zwei Rollen, in die
der Rennrollstuhl reingestellt wird. Die Rollen sind mit einem Computer
verbunden und können gebremst werden, so dass Steigung und Gefälle real
nachempfunden werden können. Natürlich sitzt man in seinem Stuhl in Sportkleidung und natürlich sollte man in so engen Stühlen auf alles verzichten, was die Haut wundscheuern kann. Das betrifft vor allem Querschnittgelähmte, die das Wundscheuern nicht merken, deren Haut sich deutlich schneller verletzt und die wesentlich länger mit der Heilung verletzter Haut zu tun haben. Auf der Straße heißt es konsequent: Pampers weg. Die scheuert wund, schnürt ein, führt zum Wärmestau, löst sich auf. Nicht alle tragen sowas, einige beeinflussen die Blase auch über Medikamente, aber das funktioniert eben nicht bei allen.

Bei Steffi auch nicht. Nun überlege ich mir natürlich, dass ich bei diesem Test ja Höchstleistung bringen soll, genauso schwitze – also auch
hier lieber ohne Windel. Aber ich kann ja direkt vorher nochmal auf die
Toilette und der Test dauert ja auch nur maximal 30 Minuten. Das sollte
man wohl trockenen Fußes hinbekommen, selbst wenn man gar nichts aktiv kontrollieren kann. Falls nicht, wird auch niemand was sagen, dann kleckerts halt auf den Fußboden, irgendeiner schmeißt zwei, drei Lappen hin, hätte ich kein Mundstück im Mund, würde ich noch „sorry“ sagen, aber mehr Aufmerksamkeit bekommt die Sache nicht. Weder vom Sportler, noch von den Leuten, die da arbeiten und sichten.

Wie man schon ahnen kann, war Steffi die einzige, die dort einen See gemacht hat. Also flogen zwei, drei Lappen auf den Fußboden unter ihren Po, als sie mit ihrer Testung fertig war, wurde, bevor der nächste drankam, einmal nass gewischt. Dann kam sie zu uns und fragte, ob wir das eben mitbekommen hätten, sie sei supergut gefahren. Jaja *augenverdreh*. Und deswegen schwitze sie auch immer so. Daraufhin sagte
Yvonne: „Och, so verschwitzt siehst du aber gar nicht aus.“ Tja, schlecht, wenn man den halben Morgen rumzickt, dann zickt irgendwann auch mal jemand zurück. „Nein“, fuhr sie fort, „ich meine gar nicht so sehr an der Stirn, sondern am Po.“ Sie habe am Po so sehr geschwitzt, dass es schon runtergetropft sei… Yvonne schaute sie an und man entnahm ihrem Blick, dass sie nicht wusste, ob das ein Spaß oder Ernst war. Steffi meinte es ernst. Es dauerte drei Sekunden, dann konnten sich Yvonne, Simone, Cathleen, Kristina, Merle und ich vor Lachen nicht mehr aufrecht halten. So fies das auch klingen mag, ich glaube, der Spruch wird unser neuer Running Gag – mindestens bis 2014.

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