Selbstgerechte Socke

Es ist respektlos, sich über einen alten Mann lustig zu machen, der
es nicht für möglich hält, dass junge Menschen eine Behinderung haben, ohne fremde Hilfe am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können (und zwar so, dass es kaum auffällt) und nicht über ihre Behinderung definiert werden möchten.

Es ist respektlos, seine Neugier nicht befriedigen zu wollen, ihn über die Eigentumsverhältnisse seiner Mitmenschen im Unklaren zu lassen,
trotz Aufforderung nicht ernsthaft mit ihm sprechen zu wollen und seinen eingeschränkten Blickwinkel für eine spöttische Vorführung zu missbrauchen.

„Behinderte sind wie Beamte – immer im Dienst.“ – Der Spruch stammt von unserem Sportvereins-Häuptling. Sorry, den hatte ich für ein paar Minuten vergessen. Vielleicht war ich beflügelt von dem Gefühl meines Auftriebs im Wasser, von der Freiheit, mich ohne Hilfsmittel frei bewegen zu können, von der mich umschlingenden Wärme des Wassers, und wollte mich einfach nicht so schnell zurückholen lassen in die Realität.

Vielleicht hatte ich aber auch einfach nur Lust, mal jemanden zu ärgern. Meine Kräfte mit ihm -oder noch perverser- an ihm zu messen. Vielleicht sogar auf unfaire Art. Möglicherweise war ich auch einfach nur genervt oder gar enttäuscht, nicht mal im Schwimmbad eine Viertelstunde Ruhe zu bekommen von Fragen, Sprüchen oder dummen Witzen, die meine Behinderung betreffen.

Selbstverständlich stehe ich inzwischen -innerhalb wie außerhalb dieses Blogs- hierfür jederzeit wieder zur Verfügung. Selbstverständlich
beantworte ich inzwischen wieder jedem Menschen, und sei er mir auch noch so unbekannt, alle Fragen, die ihm auf der Zunge brennen. Es stört mich auch nicht, wenn er von mir intimste Details wissen will, während ich nicht mal weiß, wie er heißt und wer er ist. Als Behinderte muss man
brav sein und immer freundlich lächeln, tut es auch noch so weh.

Ich bilde mir ein (ja, ich bin so selbstbewusst-arrogant-selbstgerecht), inzwischen ein sehr gutes Gespür dafür entwickelt zu haben, wann jemand wirklich mitfühlend und anteilnehmend (und das meine ich jetzt nicht im Sinne von bedauernd oder
bewundernd, sondern als ein gegenseitiges Geben und Nehmen) mit mir in ein gemeinsames Gespräch oder einen Schriftverkehr kommen möchte, und wann jemand glaubt, mich wie in einem Verhör ausfragen zu dürfen. Im ersten Fall habe ich null Probleme damit, über wirklich jedes Thema zu reden. Und sind sie auch noch so peinlich, aufwühlend oder tiefgründig.

Mich interessieren sehr wohl die Meinungen meiner Freunde, meiner Umwelt und auch die mir bis dahin unbekannter Menschen. Ich habe auch kein festgefahrenes Meinungsbild. Im Gegenteil, vieles überarbeite und überschreibe ich immer wieder. Manche Themen, in denen ich mir sehr unsicher bin, nahezu täglich. Sexualität ist beispielsweise ein Thema aus meinem Arbeitsspeicher.

Hingegen befinden sich einige meiner Standpunkte, und da mag möglicherweise ein Eindruck der Selbstgerechtheit entstehen, wie in einem Stein eingemeißelt. Es gibt einige elementare Meinungen, die diskutiere ich nicht. Dazu gehören beispielsweise einige Menschenrechte.
Die, muss ich es betonen, nicht nur für mich, sondern selbstverständlich genauso für jeden anderen gelten.

Ob ein Rollstuhlfahrer grundsätzlich im Linienbus mitgenommen werden darf – da lasse ich einfach keine zwei Meinungen zu. Würde ein Fußgänger
im übrigen auch nicht – nur darüber denkt niemand nach, weil niemand auf die Idee käme, Fußgänger vom Busfahren grundsätzlich auszuschließen.
Das heißt aber nicht, dass ich Busfahrer unfreundlich behandele oder nach dem Aussteigen nicht grundsätzlich nochmal vorne vorbeifahre und ihm ein „Dankeschön“ reinrufe. Und das heißt auch nicht, dass ich mich über Bestimmungen hinwegsetzen würde, die es mir verbieten, in einen Linienbus einzusteigen. Nur würde diese Bestimmung trotzdem nicht meiner
Meinung entsprechen.

Ich weiß, dass es unter den Menschen -ob mit oder ohne Behinderung- etliche Ar***löcher gibt. Kleine und große. Ich bilde mir ein, keins zu sein. Viele andere bilden sich das vielleicht genauso ein, obwohl wieder
andere sie als solches sehen würden. Manch einer will vielleicht sogar eins sein und ist sogar stolz darauf. Ob man selbst ein Ar***loch ist, ist schwierig einzuschätzen, wenn man nicht gerade dem Wunsch nachgeht, eins zu sein. Ich denke immer: Solange mich ganz viele Menschen zur Begrüßung feste knuddeln, einige davon mich dabei fast aus dem Stuhl kippen, solange Kinder aus eigenem Antrieb auf mich zu stürmen, mit mir spielen oder mich necken wollen, solange sich Menschen bei mir aus tiefstem Herzen bedanken, kann ich nicht zu den größten Ar***löchern gehören.

Es kann sehr gut sein, dass ich einen Menschen heute als Idioten ansehe und morgen merke, dass er ja doch ganz nett ist. Es kann auch sein, dass jemand heute mein Freund und morgen nicht mehr mein Freund ist. Es kann auch sein, dass ich heute Texte von mir lese, die ich morgen nicht noch einmal so schreiben würde. Es kann jedoch nicht sein, dass ich auf meinen Spaß verzichte. Auch und gerade wenn er nicht immer politisch korrekt ist.

Ich möchte weiterhin gerne meinen Blog schreiben. Ich möchte, dass er
gerne gelesen wird. Ich freue mich über Kommentare. Ich freue mich auch
über Fragen und Anmerkungen, auch über Kritik. Ich freue mich über ehrliches Interesse an mir und auch an meiner Behinderung. Und ich begrüße meinen 100.000 Besucher!

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