Lieber ohne Finderlohn

Ich fuhr gestern abend mit der S-Bahn (S 3) stadteinwärts, als neben mir ein Mann, Mitte 30, stand und aufgeregt telefonierte. Worum es
ging, wusste ich nicht, es hörte sich geschäftlich an. Er sprach von irgendwelchen Projekten und von Leuten, die er ins Boot geholt hatte oder noch ins Boot holen wollte. Das konnte ich trotz Musik im Ohr deutlich verstehen. An der Haltestelle Reeperbahn verließ er sehr eilig den Waggon. Als die Bahn bereits weitergefahren war, fiel mein Blick plötzlich auf eine Reisetasche, die derjenige scheinbar mit hineingebracht, aber nun geöffnet stehen gelassen hatte. Ein Herr saß mit dem Rücken zur Tasche auf der Sitzbank. Ich fragte ihn sicherheitshalber, ob es seine Tasche sei. Nicht, dass ich da etwas nicht richtig in Erinnerung habe und noch jemandem die Tasche wegnehme!

Ich schaute vorsichtig hinein, ohne die Tasche zu berühren: Es guckten keine Drähte raus und der Inhalt sah auch recht ungefährlich aus. Unter anderem ein Notebook und eine Geldbörse. Ich entschloss mich,
dass es sich wohl eher um vergessenes Reisegepäck als um eine Bombe handeln könnte, nahm die Tasche auf den Schoß, schloss den Reisverschluss und stieg am Hauptbahnhof aus. Auch wenn die Versuchung groß war, erstmal reinzuschauen, vielleicht dazu vorher noch kurz auf die Toilette zu gehen … nein, ich konnte meiner Neugier widerstehen und rollte direkt zur Sicherheitswache hinter dem Bahnhof. Dort sitzen in einem Container jeweils ein Beamter der Landes- und der Bundespolizei.

„Ich möchte gerne eine Fundsache abgeben, an wen muss ich mich da wenden?“ – „Haben Sie die in der Bahn oder S-Bahn gefunden?“ – „S-Bahn.“
– „Dann können Sie das bei mir machen.“ – „Wissen Sie, wem die gehört?“
– „Nee. Vermutlich einem Mann, der Reeperbahn ausgestiegen ist.“

Der Mann nahm die Tasche an sich und begann am PC ein Protokoll zu schreiben. Wann und wo gefunden? Um welche Zeit? Gefühlte 1000 Fragen. Ihren Personalausweis bitte. Dann packte er die Tasche aus und schrieb in das Protokoll Zeile für Zeile, was alles drin war. Und die Liste war lang. Ein teures Laptop, ein iPad mit mobilem Internet, eingeschaltet, Diktiergerät, Akten, Schreibzeug, zwei Zeitschriften, eine Geldbörse mit
über 700 € Inhalt, Kreditkarten und Personalausweis, eine angebrochene Tüte Salmiakpastillen, ein offener Briefumschlag mit genau 1.000 € drin,
ein wenig Kokain, ein Pornoheft mit übergewichtigen Frauen drauf, ein Deostift und ein zerfledderter Stadtplan.

Inzwischen war ich froh, nicht noch einen Abstecher zum Klo gemacht zu haben. „Wie sah denn der Mann aus, von dem sie glauben, dass er die Tasche mit reingebracht hat? Haben Sie gesehen, dass er die Tasche dorthin gestellt hat?“ Nein, hatte ich ja alles nicht. Ich sagte ihm, dass ich vermute, dieser Typ könnte es gewesen sein. Der stand neben der
Tasche und ging eilig an der Reeperbahn raus. Die Tasche könnte natürlich auch vorher schon dort gestanden haben. Was weiß denn ich?

Der Mann meinte, es könnte sein, dass ich in den nächsten 48 Stunden Besuch von Kriminalbeamten bekomme, die das alles auch noch einmal hören
wollen. Es könnte sein, dass die sich die Aufzeichnungen der Kameras holen. Sollen sie tun. Ich habe nur eine Fundsache abgegeben und werde mir beim nächsten Mal überlegen, ob ich die Fundsache nicht lieber demjenigen zuordne, der dort sitzt. Spannend wäre natürlich zu wissen, ob bei der Berechnung des Finderlohns auch der Schwarzmarktwert des Kokains mit einfließt. Noch spannender wäre allerdings, ob ich eine schusssichere Weste brauche, wenn ich den Eigentümer besuche, um den Finderlohn abzuholen. Wobei die Menge eher deutlich für einen Konsumenten sprach als für einen Händler. Aber man weiß ja nie, insofern
… verzichte ich lieber auf meine 50 € und ziehe mir erstmal einen Joint
rein. (War ein Scherz, ja? Die einzigen Tüten, die ich kenne, sind Mülltüten. Und zwar echte.)

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