Entschuldigung angenommen

Jana, Simone und ich stehen im S-Bahnhof Dammtor, die Bahn fährt ein, die Türen öffnen sich. Hinter der ersten Tür: Lauter Fahrräder. Hinter der zweiten Tür: Lauter Fahrräder. Hinter der dritten Tür: Lauter
Fahrräder. Hinter der vierten Tür: Lauter Menschen. Hinter der fünften Tür: Etwas weniger Menschen. Also schnell rein, bevor der Zug abfährt. Jana vorweg, zack, drinnen, eine Sache von zwei bis drei Sekunden. Cathleen sofort hinterher, zack, ebenfalls drinnen. Nun komme ich: Ich schaffe es, mit den Vorderrädern in den Waggon, die Hinterräder bleiben in dem Spalt zwischen Bahnsteig und Wagen stehen. Ich stehe also mitten in der Tür, die Hände an den Haltegriffen am Wagen, warte ab, dass die Leute, die drinnen stehen, etwas aufrücken. Es wäre genug Platz. „Entschuldigung, könnten Sie ein kleines Stück weitergehen, damit wir alle reinpassen?“ rufe ich einmal laut.

Träge setzt sich die Masse in Bewegung. Jeden frei werdenden Zentimeter nutzen Jana und Cathleen, um aufzurücken und mir den Einstieg
zu ermöglichen. Es fehlen nur noch zehn Zentimeter. „Gehen Sie doch bitte mal etwas weiter durch“, sagt Jana energisch. „Wir steigen nächste
Station wieder aus, nur meine Freundin möchte auch noch mit. Ein paar Zentimeter bitte.“

Niemand rührt sich. In dem Moment kommt die Ansage: „Zurückbleiben bitte!“ Und die Türen schließen. Während ich dazwischen stehe. Für die Nicht-S-Bahn-Fahrer sei erklärt, dass auch diese Türen eine (inzwischen kenne ich das Wort) „Drängeleinrichtung“ haben. Das heißt, anders als beim Bus, wo die Tür wieder aufgeht, sobald sie auf ein Hindernis stößt,
verfolgen die Türen in der S-Bahn unbeirrbar ihr Ziel. Sie zerquetschen
zwar keinen, aber wenn man seine Finger zwischen Greifreifen und Tür bekommt, tut es schon arg weh. Also nehme ich die Hände auf den Schoß und warte ab. Nach zehn Sekunden Gepiepe öffnet der Fahrer die Türen wieder. Dann endlich rücken die Leute zwanzig Zentimeter auf und ich komme auch noch in den Waggon.

Das war vor drei Monaten im Sommer. Gestern abend stehe ich am S-Bahnhof Elbgaustraße und warte darauf, dass ich einsteigen darf. Der Zug steht bereits im Gleis, da er dort aber startet, ist noch kein Zugführer da und die Türen sind noch geschlossen. Der Zugführer, ein Typ
um die 50 Jahre, kommt den Bahnsteig entlang, steuert direkt auf mich zu. Ich war vorbereitet auf die sonst übliche Frage: „Brauchen Sie Hilfe
beim Einsteigen?“ – Es kam was ganz anderes. „Ich glaube, ich muss mich
bei Ihnen entschuldigen.“

Stirnrunzeln. Verblüffung. „Wieso das?“ – „Waren Sie das nicht vor ein paar Wochen am Dammtor? Mit ein paar anderen Rollifahrern? Ich glaube, ich habe Sie in der Tür eingeklemmt.“ – „Ah, ja, doch, ich erinnere mich.“ – „Ja, das tut mir Leid. Ich habe gepennt. Das war 3 Minuten vor Feierabend, letzte Schicht, ich hatte schon meine Jacke an, alles gepackt, und dann ein Langzug, 27 Türen auf drei kleinen Monitoren, dadurch, dass sie da festhingen, bewegte sich auch nichts, ich habe das nicht gesehen. Erst als ich keine Quittung bekam, dass alle
Türen zu sind, dachte ich: ‚Welche Spielkinder halten denn da wieder die Türen fest?‘ Das ist sonst die Regel. Und dann sah ich Sie da festhängen.“

„Ist ja nichts passiert. So ein Rolli ist ja stabil, der Zug fährt mit offenen Türen nicht los, alles halb so wild. Ich kam nicht rein, weil die Leute nicht aufrückten. Und zurück kam ich auch nicht mehr, weil ich bereits in dem Spalt stand zwischen Bahnsteig und Zug. Die Türen davor waren voller Fahrräder, dadurch dauerte das alles länger.“

„Ich habe mir richtige Vorwürfe gemacht. Ich dachte, Sie beschweren sich. Wenn man dann die Filme ausgewertet hätte, das hätte mich meinen Job kosten können. Ich habe nächtelang nicht geschlafen. So etwas passiert mir nicht nochmal. Seitdem gucke ich noch genauer. Einmal auf das, was sich bewegt, und dann, ob da nicht irgendwo jemand drinsteht. Jede einzelne Tür. Man muss so aufpassen, da kann ja auch mal jemand gestürzt sein und in der Tür liegen oder so etwas. Das ist noch nie vorgekommen, aber man muss da echt sehr viel aufmerksamer sein.“

„Ist ja alles halb so wild. Macht ja jeder Mal einen Fehler. Es ist nichts passiert. Entschuldigung angenommen.“ Er schien erleichtert, man sah, dass ihm diese Entschuldigung ein wichtiges Bedürfnis gewesen zu sein schien. Zu Hause habe ich das natürlich gleich Cathleen und inzwischen auch Jana erzählt. Dass der sich darüber so einen Kopf gemacht hat! Wahnsinn. Das war schon fast übertrieben. Aber genau das fehlt eben vielen Menschen mit Scheiß-Egal-Haltung! Ich finde, an ihm können sich einige Leute eine Scheibe abschneiden. Ich hoffe, er kann inzwischen wieder ruhig schlafen.

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