Königin der Niederlande

Heute morgen hatten wir ein Schulprojekt in der City. Eigentlich wollten wir uns um 7.30 Uhr im Bahnhof Altona treffen, da aber auf meiner Linie wieder alles drunter und drüber ging, verpätete ich mich. Meine Leute fuhren gerade aus Altona los, als ich am Diebsteich losfuhr,
also eine Sekunde zu spät, um umzusteigen. Nun musste ich doch noch den
Umweg über Altona nehmen, auch wenn die anderen schon weg waren.

Mit mir in der Bahn war ein junger Mann mit Down-Syndrom. Er fährt öfter auf dieser Strecke, arbeitet scheinbar irgendwo in Altona und jedes Mal, wenn er mich sieht, nimmt er seine Schirmmütze ab, verbeugt sich tief und sagt in seiner nuscheligen, aber lauten Sprache: „Guten Morgen, schöne Frau!“ Mehr passiert in aller Regel nicht. Einmal hat er mir erzählt, dass er im Verein schwimmt und sich heute mittag nach der Arbeit beeilen müsse, weil der Sport nicht auf ihn warte. Irgendwie finde ich ihn goldig.

In Altona stiegen wir gemeinsam aus. Er wollte den Bahnhof verlassen,
ich wollte gegenüber auf die nächste S-Bahn warten, die hier eingesetzt
wird. Eine Traube Polizisten, mit Maschinenpistolen bewaffnet, streifte
über den Bahnsteig. Fünf Mann, einer davon schien das zu beaufsichtigen
oder sich ein Bild davon zu machen, er trottete in einigem Abstand hinterher und hatte ein Klemmbrett dabei, auf dem er eifrig schrieb. Im Gegensatz zu den anderen Leuten war er wesentlich älter und hatte goldene Sternchen auf seinen Schultern.

Mein „Freund“ mit Down-Syndrom lief auf die vier Polizisten zu, verbeugte sich, nahm die Mütze ab und rief: „Guten Morgen! Ich möchte auch Polizist werden.“ – Einer der Beamten stellte sich stramm auf und sagte im fast schon militärischen Tonfall: „Wie ist Ihr Name, junger Mann?“ – Mein „Freund“ antwortete, überhaupt nicht schüchtern: „Ich heiße Max, bin 22 und wohne in Hamburg.“ – Der Polizist antwortete: „Max, ich werde Ihre Bewerbung weitergeben an Herrn Polizeidirektor Jungblut. Der ist bei uns für Personal zuständig.“ – Max verbeugte sich noch einmal theatralisch und sagte: „Vielen Dank! Ich muss weiter, die Arbeit ruft!“ Dann lief er davon.

Ich musste schmunzeln. Inzwischen fuhr die S-Bahn ein, die hier eingesetzt wird. Ich stieg ein und schloss hinter mir die Tür. Im Waggon
roch es nach ausgelaufenem Bier. Irgendeiner hatte wenigstens ein Fenster geöffnet. Durch das Fenster verstand ich jedes Wort der Unterhaltung, die die Polizisten draußen führten. Der Typ mit den goldenen Sternchen fragte seinen Kollegen: „Was war das für ein Mann, Müller?“ (Keine Ahnung, wie er hieß, es war irgendein Allerweltsname wie
Meyer, Müller, Schulze.)

„Ach, nur so ein kleiner Komiker, Chef!“ – „Ein Komiker?“ fragte der Mann mit den goldenen Sternchen nach, die Hände mit dem Klappbrett hinter dem Rücken verschränkt und mit strengem Blick.

„Ja“, fuhr der Polizist fort. „Er will bei uns anfangen. Jedes Mal, wenn ich ihn sehe, erzählt er mir, dass er gerne zur Polizei will. Ich sage ihm dann immer, dass ich seine Bewerbung an Herrn Polizeidirektor Jungblut weiterleiten werde. Dann freut er sich und rennt weiter zur Arbeit. Der arbeitet in den Elbe-Werkstätten.“

„Und wer ist dieser Direktor Jungblut?“ – „Keine Ahnung, Chef. Ich habe ihn vor ein paar Monaten erfunden.“ Dieser Chef war mir unsympathisch. Er musterte seinen Kollegen etliche Zeit von oben bis unten. Dann sagte er: „Sagen Sie mal, Müller, halten Sie das eigentlich für einen sensiblen Umgang mit einem behinderten Menschen? Mit einem, den das Leben benachteiligt?“

Der Kollege Müller antwortete: „Naja, vielleicht nicht ganz, aber was
soll ich tun? Er spricht mich an, nur um das zu hören. Ich sage ihm das, er ist glücklich und läuft weiter. Was kann ich in dem Augenblick anderes für ihn tun?“ – „Zuallererst sollten Sie aufhören, solche Menschen als ‚Komiker‘ zu bezeichnen, ja? Versetzen Sie sich mal in die Lage dieses jungen Mannes.“

Der Polizist schloss die Augen, nickte kaum sichtbar und sagte: „Jawohl, Chef.“ Ich schätze, er wird sich seinen Teil gedacht haben.

Ich finde es nicht verkehrt, dass sich der Chef dafür einsetzt, dass man mit behinderten Menschen anständig umgeht. Gerade behinderte Menschen kommen doch eher mal in eine Notlage, in der sie Hilfe benötigen. Ich kann aber, allen Beschwerdeführern zum Trotz, bisher eindeutig überwiegend positiv von meinen Begegnungen mit der Trachtentruppe berichten. Nicht, dass ich viel Wert darauf lege, mit denen in Kontakt zu kommen, aber wenn es sein musste, habe ich die Leute
überwiegend hilfsbereit und freundlich erlebt.

Insofern finde ich es zwar richtig, dass darauf geachtet wird und dass man in dem Verein entsprechend schult, nur sollte man es auch nicht
übertreiben. Ich finde, der Herr Müller hat sehr gut reagiert. Er hat ihm keine konkreten Versprechungen gemacht, er ist auf Max eingegangen, der hat sich ernst genommen gefühlt – wenn bloß alle Menschen so reagieren würden wie Herr Müller, wäre ich verdammt glücklich!

Natürlich nimmt er ihn in der Sache nicht wirklich ernst. Und wenn Max fragt, ob er wirklich eine Chance hat, sollte er ihm keine Hoffnung machen. Aber Müller nimmt diesen Menschen ernst. Indem er sich nicht über ihn lustig macht oder sich abwendet, sondern mit ihm 30 Sekunden Smalltalk führt, Max ein gutes Gefühl für einen tollen Start in den Tag gibt, ohne dass er sich einen Zacken aus der Krone gebrochen hat und ohne dass ihm jemand auf den Keks gegangen ist. Das, finde ich, ist sehr
wertvoll.

So ähnlich ist es mit Felix, der in einer der Jungendsportgruppen meines Vereins ist. Er erzählt mir regelmäßig, er sei der Heimleiter der
Einrichtung, in der er wohnt. Felix hat eine kognitive Einschränkung und sitzt zudem im Rollstuhl. Ich könnte ihm jetzt beweisen, dass er nicht der Heimleiter ist, ich könnte ihn auslachen, ich könnte mich gar nicht mit ihm unterhalten – oder ich nehme ihn ernst. Nicht inhaltlich, denn das kann nicht ernst sein. Aber es kann ein Spiel sein, das ich mitspielen kann. „Heimleiter, okay … Ich hab davon keine Ahnung, was muss denn so ein Heimleiter den ganzen Tag machen? Das ist doch bestimmt
ein harter Job!“

„Ein sehr harter Job. Ich muss so den ganzen Tag im Büro sitzen und Briefe schreiben und stempeln und so. Ich habe ganz viele Stempel in meinem Büro, guck mal, diese hier.“ Und dann holt er einen Zettel raus, auf dem er mit einem ausgedienten Stempel, auf dem das Wort „Abschrift“ steht (wobei das „t“ schon fehlt, was vermutlich der Grund ist, warum man den ausrangiert hat) mindestens 100 Mal abgedrückt hat. In meiner Schreibtischschublade lag bis vor kurzem noch ein ausgedienter Datumsstempel. Der ging bis 2009. Ich hab ihm den geschenkt, damit er immmer das Datum stempeln kann – als Erleichterung für sein Büro. Ein paar Wochen später kam sein Vater auf mich zu und meinte, das sei ein großartiges Geschenk gewesen. Jeden Morgen nach dem Aufstehen, hätten die Betreuer der Einrichtung gesagt, müsste als allererstes das richtige
Datum eingestellt werden…

Ein anderes Mädchen, ich schätze sie auf 10 bis 12, möchte später einmal Königin der Niederlande werden. Nun weiß ich einerseits, was die Eltern ständig im Fernsehen schauen, andererseits, was uns in den nächsten Jahren noch erwartet…

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