Nur teure Ausnahmen

Erneut bin ich froh, einen so genannten „Haftpflichtigen“ zu haben.
Oder eigentlich ist es ja eine Frau, oder sogar ihre Versicherung. So bleibt es mir manches Mal erspart, mich mit den neuesten aberwitzigen Spar-Ideen der Krankenkassen abkaspern zu müssen. Diese ist einfach nur noch lächerlich.

Dass man von Cathleen (dank juristischer Hilfe von Frank vergeblich) gefordert hatte, sie möge ein Miktions-Tagebuch führen, davon hatte ich ja bereits geschrieben.

Nun versucht man an anderer Stelle, Kosten zu „sparen“. Sie bekommt täglich Darifenacin, das ist ein Arzneimittel in Tablettenform, das die Blase ruhigstellt.

Querschnittlähmungen (egal ob erworben oder angeboren) bringen ja immer Auswirkungen auf die Blasenfunktion mit sich, da die Blase am unteren (ganz, ganz unten) Ende der Wirbelsäule an das Nervengeflecht angeschlossen ist. Jede Schädigung des Rückenmarks liegt damit automatisch zwischen dem Anschluss der Blase (ganz unten) und Gehirn (ganz oben). Also ist die Blase immer von einer Nervenschädigung im Rückenmark betroffen.

Dieses Darifenacin lähmt die Blasenmuskulatur und verhindert so, dass
sie sich ungewollt zusammenzieht und den Inhalt der Blase nach draußen presst. Das macht die Blase gerne, wenn sie vom Gehirn gar nichts mehr hört. Dann reagiert sie plötzlich auf andere Reize, und diese anderen Reize können beispielsweise auch eine Erschütterung oder ein Bestreichen
des Oberschenkels sein.

Darifenacin ist ein relativ neues und verhältnismäßig teures Medikament. Pro Tag kostet nur die Tabletteneinnahme etwa 2.19 €. Zuviel, wie ihre Krankenkasse jetzt entschieden hat. Das Medikament wird
nicht mehr weiter übernommen, Oxybutynin reiche aus und koste pro Tag in ihrer Dosierung nur rund 0.46 €. Pro Jahr könne die Kasse so 630 € einsparen.

Nun hatte es aber einen Grund, warum der Arzt nicht das einfache, sondern das teurere Medikament aufgeschrieben hat. Cathleen hat nicht nur eine angeborene Querschnittlähmung, sondern auch eine Störung des Hirnwasserkreislaufs. Spina bifida (offener Rücken) und Hydrocephalus hängen eben oft zusammen. Der Hydrocephalus ist durch eine Drainageleitung, die überschüssiges Hirnwasser intern in die Bauchhöhle ableitet, operativ kurz nach Geburt versorgt worden.

Bekannt ist, dass Oxybutynin die Hirnleistung bei einer entsprechenden Vorschädigung herabsetzen kann. Man hat beobachtet, dass Menschen, die beispielsweise an Demenz erkrankt sind, in ihrem Erkrankungsbild eine um bis zu 20 Jahre fortgeschrittene Symptomatik zeigen, wenn sie Oxybutinyn schlucken. Oder anders ausgedrückt: Jemand, der seit 10 Jahren an Altersdemenz leidet, kann nach Einnahme von Oxybutynin eine Symptomatik zeigen, als wenn diese Demenz schon seit 30 Jahren in ihm sein Unwesen treibt. Sobald man das Zeug wieder absetzt, ist der Spuk vorbei.

Bei Cathleen hat dieses Zeug ähnliche Nebenwirkungen. Sobald sie das nimmt, wird sie unaufmerksam. Sie steht völlig neben sich, wird fahrig, vergesslich, reagiert wie benebelt und man muss sie teilweise drei, vier
Mal ansprechen, bis man ihre volle Aufmerksamkeit hat. Ein klarer Grund, dieses Zeug nicht zu nehmen. Kleine Anmerkungen: Ich bekomme auch
Oxybutynin und habe damit keinerlei Probleme. Habe aber auch keine Hirnschädigung.

Jedenfalls kann Cathleen damit weder zur Schule noch alleine auf die Straße. Wenn man das Zeug absetzt, ist sie im Kopf völlig normal. Die Kasse interessiert es nicht: Darifenacin darf der Arzt trotzdem ab sofort nicht mehr verordnen. Nun zeichnet sich allerdings ein Kompromiss
ab: Wenn sie Oxybutynin in flüssiger Form direkt in die Blase spritzt (also einen Einmalkatheter in die Blase einführt, die Blase entleert und
anschließend 10 ml dieser Lösung aus einer Ampulle über den Katheter dort hineinspritzt), wirkt das nicht auf den ganzen Körper (sondern nur in der Blase). Es lähmt die Blase zuverlässig und verursacht nicht diese
gravierenden Nebenwirkungen.

Damit wäre die Kasse einverstanden. Der Hausarzt auch, Cathleen auch.
Der Urologe auch. Allerdings: Das Zeug kostet. Pro Tag rund 14.66 €. Ja, richtig. Es ist rund sieben Mal so teuer wie das Darifenacin. Aber es kann übernommen werden, wenn man das Oxybutynin in Tablettenform nicht verträgt. Im Gegensatz zum Darifenacin – das darf gar nicht übernommen werden. Auch nicht ausnahmsweise, wenn man Oxybutynin als Tablette nicht verträgt. Die Ampullen kosten dann halt über 4.500 € pro Jahr mehr als Darifenacin, aber es geht ja um das Prinzip … oder so ähnlich.

Nun kann der Hausarzt diese Ampullen aber nur dann rezeptieren, wenn er vom Facharzt eine Stellungnahme hat, dass die Oxybutynin-Tabletten in
diesem Einzelfall zu viele Nebenwirkungen machen. Und weil der Urologe so viel zu tun hat, wartet Cathleen seit nunmehr sechs Wochen auf die entsprechende Bescheinigung. Und wird täglich vertröstet. Und bezahlt inzwischen pro Tag 2.19 € privat, die sie niemals wiedersehen wird, von ihrem Taschengeld. Da kommt doch Freude auf!

Frank wartet derzeit darauf, dass das Oxybutynin in flüssiger Form zum ersten oder zweiten Mal von der Kasse übernommen wird, um ein neues Fass aufzumachen. Irgendwann kann er sich alleine mit unseren „Fällen“ selbständig machen.

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