Einmal Beinchen heben

Fast ein Jahr ist meine Physiotherapeutin im Krankenhaus nun schon in ihrem Job. Ronja, die trotz körperlicher und kognitiver Einschränkungen mit einem Hauptschulabschluss ihre Physiotherapie-Ausbildung durchgezogen hat, mit Unterstützung des Arbeitsamtes in doppelt so langer Ausbildungszeit als normal, hat inzwischen einen festen „Patientenstamm“, der explizit nach ihr verlangt. Aus einem ganz einfachen Grund: Sie macht einen guten Job.

Am Anfang ist man etwas irritiert von ihrer Art, sie ist wirklich sehr einfach gestrickt, sie schwankt beim Gehen, redet nuschelig, liest und schreibt wie jemand in der vierten Klasse. Aber wenn sie dann erstmal das macht, was sie sich (mit Sicherheit sehr mühsam) in ihrer Ausbildung angeeignet hat, ist sie absolut top. Sie versteht ihr Handwerk, quält dich so richtig bis an die Grenzen oder massiert dir jeden einzelnen verspannten Muskel butterweich und kommt wegen ihrer eigenen Behinderung gerade bei Rollstuhlfahrern absolut glaubwürdig rüber. Kurzum: Ich will nicht tauschen.

Was mir an ihr so sehr imponiert: Ihre Ehrlichkeit. Sie spricht genau
das aus, was sie denkt. Ob das unbequem ist oder nicht, darum macht sie
sich keinen Kopf. Sie sagt auch gerade und offen heraus, was sie kann und was nicht. Sie erzählt, wo sie sich dumm angestellt hat und wie peinlich ihr das war. Sie erzählt, was sie nicht gepackt hat. Aber auf der anderen Seite auch, wann sie auf sich stolz ist. Und worauf konkret.
Wie gesagt, sie ist sehr einfach gestrickt.

Auf der einen Seite fühlt sie auch total mit. Wenn man erzählt, dass man Kummer hat oder genervt oder verärgert ist, kann sie sich unheimlich
gut darauf einstellen, auch wenn sie die Gründe dafür vielleicht gar nicht versteht. Es ist schwer zu erklären, aber man merkt es einfach. Auf der anderen Seite wirkt sie fast immun gegen Angriffe, die auf ihre eigene Behinderung zielen. Womit wir dann auch beim Thema wären:

Es scheint von einzelnen ihrer Kolleginnen schon viel verlangt zu sein, dass sie eine Kollegin mit kognitiven Einschränkungen als „gleichwertig“ akzeptieren müssen. Dass diese dann aber auch in mancher Hinsicht besser ist als sie, damit kann eine absolut nicht umgehen. Ronja wird von etlichen Rollifahrern explizit verlangt. Sie muss sich keine Sorgen machen, dass ihr Terminkalender Lücken hat. Insofern sollte
es auch keine Probleme geben, dass ihr Vertrag, der zum Jahresende ausläuft, verlängert wird.

Aber gerade das passt wohl einer Kollegin gerade nicht. Im Konkurrenzkampf fängt sie an, sie zu ärgern. „Du kannst ja schonmal dorthin torkeln.“ Oder: „Hast du das verstanden oder sollen wir es aufmalen?“ Und ähnliches. Ronja lächelt darüber nur müde. Darauf angesprochen sagte sie mir beim Durchkneten sinngemäß: Das sei eine Schwäche der Kollegin. Sie sei nicht angenehm, aber Ronja versuche einfach stärker zu sein und sich damit zu motivieren. Sie mache ihre Arbeit so gut wie sie es könne und die Kollegin sei einfach neidisch, weil Ronja trotz ihrer Behinderung nicht viel schlechter sei als die Kollegin. Sie meinte, dass ihre Behinderung zwar sehr deutlich sichtbar sei, ihr Defizit beim Arbeiten sei aber eben nicht deutlich sichtbar. Das würde die Kollegin überfordern und deswegen sei sie so gemein.

Ich erwiderte, dass da überhaupt kein Defizit ist. Na klar ist ihr Gangbild auffällig (als Rollifahrerin beleidigt man mit so einer Aussage
niemanden) und ihre Sprache undeutlich, aber sie müsse doch gemerkt haben, dass fast alle Rollifahrer zu ihr kommen. (Die Klinik behandelt ja nicht nur Querschnitte – aber die Querschnitte rollen inzwischen fast
alle zu Ronja.) Außerdem habe ich es ganz selten, dass ich nachfragen muss, was sie gesagt hat. Wenn man richtig zuhört, versteht man sie trotz undeutlicher Aussprache. Und sie sagt: Natürlich fällt ihr das auf
und das gibt ihr die Kraft, das Gelaber der Kollegin links liegen zu lassen.

Und warum kommen die meisten Rollifahrer zu ihr? Eben nicht nur, weil
sie damit absolut fit ist (sie ist wirklich gut, das sagen selbst die ganzen alten Hasen, die ihre Querschnitte teilweise schon 20 Jahre oder mehr haben), sie gut und knackig massieren kann – und zudem eine eigene Einschränkung hat, sondern auch wegen Situationen wie dieser: Heute sollte ich eigentlich ganz normale Einzel-Physio bekommen, nur waren alle Plätze belegt. Also fragte sie mich, ob wir spontan im Bewegungsbad
etwas machen. Ich habe inzwischen immer einen Badeanzug dabei, also kein Problem. Jana, die nach mir dran war, war auch schon da und schaute
einfach nur zu.

Nur kamen wir auch nicht ins Bewegungsbad (also nicht ins Becken), weil dort ein relativ frischer Halsquerschnitt gerade zum ersten Mal alleine schwimmen gelernt hatte und er noch 10 Minuten weitermachen sollte und in dieser Zeit niemand anderes im Becken sein sollte, damit es keine Wellen gibt, die ihm über das Gesicht laufen und dabei alles Selbstbewusstsein, was man mit ihm gerade mühsam erreicht hatte, wieder zunichte machen.

In einem Nebenraum stehen einige Liegen, also wollte Ronja mit mir 10
Minuten Physio auf der Liege machen. Zuerst kamen die Übungen mit dem angehobenen Kopf in Bauchlage und den nach vorn ausgestreckten Armen, um
die Rücken- und Bauchmuskeln zu fordern, dann, kurz vor Schluss, die Übung mit dem unterstützten Vierfüßlerstand. Beim Querschnitt muss die Physiotherapeutin das Becken unterstützen und passiv das Bein anheben, das parallel zum anderen Arm angehoben wird. Das ist so eine Übung, die extrem die Blase reizt und obwohl ich gerade eben, noch keine zehn Minuten vorher, auf dem Klo war, strullerte ich ihr so richtig schön über ihre Hand, die mein Becken hielt. Nicht viel, aber genug, dass es über ihre Hand und an meinem Bauch entlang lief und auf die Liege tropfte.

Und da ist eben nun der Unterschied: Mindestens die Hälfte (jede Wette) der anderen Physios lassen dich in dem Moment entsetzt auf die Liege knallen, rennen zum nächsten Waschbecken und machen dir eine Szene, die dir den Scham bis zu einem knalligen Dunkelrot ins Gesicht steigen lässt. Nicht vorwurfsvoll, weil man ja nichts dafür kann, aber so unterschwellig kommt ganz klar rüber: Du bist eine alte Sau. Ronja hingegen sagt streng: „Weitermachen! Atmen nicht vergessen! Lass dich nicht ablenken. Noch 5 Sekunden, vier, drei, zwei, eins und langsam absetzen. So. Was machst du hier? Blumen gießen oder was? Benehmen Sie sich jetzt mal gefälligst, Frollein, ja? Andere Seite – Arm hoch, Kopf runter und stabilisieren. Schön das Gleichgewicht halten. Ich hebe dein Bein, fünfzehn, vierzehn, …“

Jana stand direkt daneben und gackerte wie ein Huhn. „Jule, das Beinchen heben und das Revier markieren klappt doch schon sehr gut, fehlt nur noch das Bellen dazu.“ – Woraufhin Ronja ergänzte: „Und ein Laternenpfahl.“ – Am Ende habe ich kurz geduscht, Ronja hat die Liege desinfiziert und Hände gewaschen und alle hatten ihren Spaß.

Ich blieb noch während Janas Therapie dabei und schwamm im tiefen Becken einige Runden, danach duschten wir gemeinsam und wurden anschließend Zeuge, wie diese eine andere Physio Ronja dumm anmachte. „Du bist die letzte, du schließt nachher bei uns ab und gibst den Schlüssel an der Pforte ab. Und nicht von innen abschließen, sonst steht
über Nacht wieder das Fenster offen.“ – Ronja erwiderte: „Wieso Fenster
offen? Ich mache immer alle Fenster zu.“ – „Kannst du nicht von außen. Du musst ja durch das Fenster rausklettern, wenn du von innen die Tür zuschließt.“ – Ronja verstand den Schwachsinn nicht und erwiderte: „Ich schließe nie von innen ab und ich kann auch nicht aus dem Fenster klettern! Kann ich nicht einfach normal zuschließen wie immer?“ – „Du bist zu dumm, du verstehst es nicht. Schließ einfach zu. Und nimm den Schlüssel nicht mit nach Hause, hörst du?“

Jana und ich standen direkt daneben, wir wurden angegrinst, ich war völlig perplex, aber Jana ergriff sofort das Wort: „Es wäre ein schwerer
Fehler, Ronja in meiner Gegenwart als ‚dumm‘ zu bezeichnen. Sie wollten
bestimmt etwas anderes sagen.“ – Die Kollegin sagte gar nichts und verschwand schnurstraks.

Auf dem Weg zum Auto lief uns der Chefarzt über den Weg. Er grüßte und fragte, wie es uns ging. Jana nutzte die Gunst der Stunde und sagte:
„Schlecht, nachdem wir mitbekommen mussten, wie einzelne Kolleginnen mit Ronja umgehen.“ Der Chefarzt wollte wissen, was dort los war, aus seinen Reaktionen konnte man aber deuten, dass ihm dieses Theater schon bekannt war. Beide Verträge (der von Ronja und auch der von dieser „netten“ Kollegin) enden meines Wissens Ende dieses Jahres. Bleibt zu hoffen, dass das Krankenhaus sich entscheidet, den richtigen zu verlängern.

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