Schon in den Herbstferien schrieb ich über Fatma,
eine junge Frau im Rollstuhl, die in meinem Jahrgang auftauchte. Nach den Herbstferien hieß es, sie sei krank. Irgendwann erwähnte ein Lehrer,
dass sie von der Schule wieder abgemeldet worden sei. Warum und wieso –
niemand weiß es. Vielleicht war unsere Skepsis zu unbequem. Da sie nicht mehr schulpflichtig ist, gibt es auch keine Handhabe, dort mal nachzufragen. Vielleicht liegt sie inzwischen tot im Keller, das würde vermutlich nicht mal einer merken. Ich habe keine Möglichkeit, etwas zu unternehmen. Das zu erkennen, schmerzt, das akzeptieren zu müssen, lähmt. Ich könnte kotzen.
Seit dem 29. November geht nun noch jemand in meinen Jahrgang, der eine Behinderung hat. Sie heißt Hannah, hat die Schule gewechselt und sitzt nicht im Rollstuhl. Als sie zum ersten Mal, hinter einem Lehrer hinterhertrottend, in unseren Englischunterricht kam, habe ich sie erst kaum beachtet. Sie ist ungewöhnlich groß, eine lange schwarze Lockenmähne bedeckt ihre Schultern, sie trug eine Jeans und einen grauen
Wollpullover, stellte sich brav neben dem Lehrer auf und warf einige ihrer Haare mit einer ruckartigen Kopfbewegung aus dem Gesicht. Ich sah sie nur aus dem Augenwinkel, während ich meinen Papierkram sortierte, und als ich hinschaute und sie ihren Namen sagte und erzählte, woher sie
kam, fiel mir nichts weiter auf.
„Neben Jule ist noch ein Platz frei, Fatma kommt ja nicht mehr. Schauen Sie mal, ob Sie mit der Tischhöhe zurecht kommen, sonst sagen Sie Bescheid.“ Häh? Wieso Tischhöhe? Wieso setzte man sie an einen höhenverstellbaren Tisch? Naja, das war ja nicht das erste, was ich von ihr wissen müsste. Hinter dem Tisch, an dem bislang Fatma in ihrem Rolli
gesessen hatte, stand kein Stuhl, dafür stand in der Ecke aber noch einer herum. Hannah zog ihn mit ihrem Fuß aus der Ecke und zog ihn am Fuß neben sich her. Die Metallfüße des Stuhls hatten unten zwar Plastik-Noppen, trotzdem machte das irren Lärm. „So einen Stuhl kann man
auch anheben“, dachte ich mir ohne hinzuschauen. Irgendwie fehlte ein wichtiges Blatt in meiner Mappe und ich war genervt am Suchen.
Hannah drehte sich mit dem Po zu ihrem Tisch, ging in die Knie, setzte ihren Rucksack ab und strich mit dem Kinn die Träger von den Schultern. Ich sah es, wie gesagt, nur aus dem Augenwinkel. Dann setzte sie sich neben mir auf den Stuhl. Ich suchte immernoch. „Hi, ich heiße Hannah. Wie heißt du?“ fragte sie mich. Ich schaute sie kurz an und sagte: „Hi Hannah, ich bin Jule. Sorry, ich bin hier gerade im Stress. Ich suche einen Zettel, denn ich soll gleich etwas vortragen und finde ausgerechnet diesen Zettel nicht.“ In dem Moment ging der Lehrer raus. Keine Ahnung, wohin, eigentlich hatte es schon zum Unterricht gegongt.
Hannah fragte meine Nachbarin auf der anderen Seite, die ebenfalls im
Rolli sitzt: „Sag mal, kannst du mir bitte den Tisch ganz nach unten kurbeln?“ – Immernoch den Zettel suchend, dachte ich: „Kannst du das nicht selbst?“ Irgendwie ging die mir auf den Wecker. Aber vielleicht war ich auch einfach nur überreizt, weil ich diesen bescheuerten Zettel nicht fand und immer mehr Gefahr lief, 00 Punkte zu kassieren.
Meine Nachbarin kroch halb unter den Tisch und drehte diesen tiefer. Ein paar Mal hörte sie auf, doch Hannah meinte immer wieder: „Geht es noch tiefer? Ganz bis zum Ende, bitte.“ Irgendwann war er in der tiefsten Position, etwa 35 Zentimeter über dem Fußboden. Endlich fand ich meinen Zettel, schaute auf den Tisch, der 40 Zentimeter tiefer als meiner war, und dachte mir so: „Was soll denn das?! Wie will die denn dadran schreiben?“ Während meine Nachbarin wieder hinter ihren Tisch rollte, sah ich, wie sich Hannah die Schuhe auszog. Sie hatte nur so Slipper an. Und grobe Wollsocken, die sie auch noch abstreifte und mit ihren Füßen zu ihren Schuhen schob. Ich sah es, wie gesagt, aus dem Augenwinkel und wusste nicht so ganz, was das werden sollte.
Dann hob sie mit den Beinen ihren Rucksack vom Tisch und zog mit einem Fuß den Reißverschluss auf. Nun schaute ich dann doch mal genauer.
Ich hatte den Verdacht, dass sie irgendwas mit dem Rücken oder ihren Armen hatte. Ich schaute nach rechts … ähm … welche Arme? Unter ihrer Lockenmähne waren keine Arme zu sehen. Ihr Pullover hatte keine Ärmel, sondern war dort zugenäht. Sie holte ihren Laptop aus dem Rucksack. Mit den nackten Füßen. Stellte es auf den Tisch, klappte ihn auf, schaltete ihn ein. Holte ein dickes Handtuch raus, faltete es auseinander und legte es vor ihren Stuhl. „Ich hasse es, meine nackten Füße auf einen Boden stellen zu müssen, auf dem vorher die Leute mit ihren Hundekacki-Schuhen langgelaufen sind.“ Sie meldete sich an ihrem PC an. Mit den Füßen. Das alles klappte in einer Geschwindigkeit und Selbstverständlichkeit wie andere das mit den Händen machen. Alle Achtung!
Dass es Menschen gibt, die ohne Arme zur Welt kommen (wie Hannah), war mir zwar bekannt, ich hatte es aber noch nie live gesehen. Im Gegensatz zu den Veränderungen, die beispielsweise durch Contergan hervorgerufen wurden, hat Hannah überhaupt keine Arme und keine Hände oder Finger. Dafür aber völlig unauffällige Füße und von ihrer Größe abgesehen unauffällige Körperproportionen. Sie meint, das völlige Fehlen
von Gliedmaßen nenne man „Amelie“, und fügte scherzhaft hinzu: „Ich lebe in der fabelhaften Welt der Amelie.“ Irgendwie hat sie zumindest einen ähnlichen Humor wie ich. Das gefällt mir.
Inzwischen habe ich sie auch schon Autofahren gesehen – während sie sich meine Handbedienung angesehen hat, durfte ich mir ihre Fußlenkung ansehen. Eine Scheibe, groß wie ein Frühstücksteller, auf der wie beim Rennradfahren ein Schuh eingeklickt wird, die in einem Automatikfahrzeug
dort angeordnet ist, wo sonst das Kupplungspedal ist. Genial.
Was mich noch ein bißchen nervt, ist, dass sie vom Schwimmen befreit ist, weil sie Hilfe beim Umziehen bräuchte und ihre Assistenzkraft, die morgens in der Pause einmal zur Schule kommt, damit sie auf Klo kommt, da keine Zeit hat. Inzwischen hat sie mich schon gefragt (beziehungsweise ich habe es im Kontext angeboten, als sie bei glatten Straßen auf ihre Assistenzkraft wartete), ob ich mit ihr aufs Klo gehe und ihr einmal den Knopf und den Reißverschluss auf- und hinterher wieder zumachen kann. Vielleicht darf ich ihr ja auch beim Umziehen helfen – wenn sie dann mitschwimmen könnte, würde ich das sehr gerne machen.
Und was mich noch viel mehr nervt, ist, dass einzelne aus den Kursen natürlich erstmal wieder ausloten müssen, ob man sie wegen ihrer Behinderung ärgern kann. Eine wollte gleich wissen, ob sie morgens ihre Brötchen auch mit den Füßen belege. Sie hielt es für ehrliches Interesse
und nickte, doch dann kam: „Du stehst also auch auf Nutella mit Käse?“ –
„Willst du jetzt irgendwas mit Käsefüßen konstruieren? Ich geb dir einen Tipp: Geh nochmal raus, überleg nochmal neu, und dann bringst du was, wofür nicht schon meine Freunde im Kindergarten auf die stille Treppe mussten.“
„Okay. Wenn du niesen musst, hältst du dir dann den Fuß vor den Mund?
Also kommst du so hoch?“ – „Nee, ich mach das anders. Ich such mir aus dem Kurs den blödesten Mitschüler und niese dem mit Anlauf aufs Hemd. Und wenn er beim Lehrer petzen geht, entschuldige ich das mit meiner Behinderung.“ – „Und was machst du, wenn dir der Mitschüler dafür eine Ohrfeige verpasst?“ – „Dann trete ich zurück wie ein Pferd. Willst du dich mit mir prügeln? In der Sporthalle? Auf einer Matte? Sag Bescheid, kann gleich losgehen.“ – „Nee nee lass mal.“ – Ob sie das gemacht hätte,
weiß ich nicht. Aber anscheinend hat sie mit dem hohlen Satz den richtigen Ton getroffen. Auch wenn ich gegen körperliche Gewalt oder Säbelrasseln bin.