Auf Filzschlappen zum Bäcker

Mir wird ja gerne von meinen Lesern nachgesagt, dass ich irgendwo in meinem Körper einen Magneten versteckt halte, der den ganzen Wahnsinn
und alle Chaoten, die es auf dieser Erde gibt, anzieht. Heute war ich zusammen mit Sofie bei einem Onkel, dem sie etwas sperriges vorbeibringen wollte. Ich war also quasi der „Fahrdienst“.

Auf der Rückfahrt stehen wir an einer Ampel (etwa 30 Kilometer von Hamburg entfernt), wollen von einer vierspurigen Bundesstraße rechts auf
die A7 einbiegen. Es ist dunkel, Schneetreiben, wir sind so ziemlich die einzigen. Im Scheinwerferlicht sehe ich, wie jemand auf der gegenüberliegenden Seite der Einfahrt mit Filzlatschen und dunkler Jogginghose durch den Schnee stapft. Mehr ist nicht zu erkennen.

Sofie sah es im gleichen Moment. Wir schauen uns an, ich mache einmal
kurz Fernlicht an, um zu sehen, was das ist. Eine alte Frau, weiße Haare, schneebedeckt, frierend, braune Strickjacke, dunkle Jogginghose, Filzlatschen. Läuft auf dem Seitenstreifen der Bundesstraße, relativ flott, und geht nach links weiter auf die Autobahnabfahrt. Sofie sagt: „Scheiße. Die ist irgendwo weggelaufen. Jule, gib Gas. Hinterher da, die
Frau aufhalten. Nicht, dass die da runterläuft und geradewegs vor den nächsten Lkw.“

„Wenn diese blöde Ampel mal grün werden würde…“, sagte ich. Sofie antwortete: „Scheiß auf die Ampel. Hier ist keiner weit und breit, vorsichtig rüberfahren und gleich dort drüben rein, der Frau hinterher und so halten, dass sie nicht weiterkommt. Mach schon.“

Gesagt, getan. Sofie kramte ihr Handy raus. Mit mulmigem Gefühl fuhr ich bei Rot über die Ampel, ganz vorsichtig, um nicht irgendwas zu übersehen, fuhr an der Auffahrt vorbei, bog nach rechts in die Abfahrt ein, gegen die „Einbahnstraße“, nach 15 Metern fuhr ich an der Frau vorbei, zog nach ganz links auf den schneebedeckten Grünstreifen, hielt an, machte meine Tür auf. „Hallo!!! Wo wollen Sie denn hin?“ – Die Frau lächelte mich an. Ich schaltete erstmal das Warnblinklicht ein und machte den Motor aus. „Sind Sie sicher, dass Sie hier richtig sind?“

„Ja ja, ich will zu meinem Mann!“, sagte sie und wollte an der Autotür vorbei. Ihre Beine waren blau vor Kälte, das Gesicht war kreidebleich und die Lippen ebenfalls blau, die schien völlig unterkühlt
zu sein, kein Wunder, sie war völlig durchnässt von dem Schnee und hatte ja nur wenige Klamotten an.

„Wo ist denn ihr Mann?“ fragte ich sie. Sie antwortete: „Auf der Arbeit, der ist Bäcker, aber der hätte schon lange zu Hause sein müssen.
Es ist ja schon dunkel!“ – Sofie hatte die zündende Idee. „Und wo arbeitet ihr Mann?“

Die Frau nannte irgendeinen Namen. Sofie sagte: „Ah, ich weiß, wo das
ist. Schauen Sie, das Wetter ist so schlecht, wir fahren Sie schnell zu
ihm hin. Hier im Auto ist es warm, dann sind Sie in 5 Minuten da.“ – Ich machte hinter mir die Schiebetür auf. Sie nickte, wollte einsteigen.
Leichter gesagt als getan bei der Stufenhöhe und der Schneeglätte … in Filzschlappen. Aber dann packte sie es. „So, setzen Sie sich mal dahin, geht gleich los!“

Ein Auto kam von vorne. Der Fahrer hielt vor uns, quasi Schnauze an Schnauze, schaltete auch das Warnblinklicht an. Stieg aus. Eine Zivilstreife? Nö, ein Wichtigtuer. In unserem Auto brannte Licht, er entschied sich für Sofies Fenster. „Sie stehen hier ja völlig verkehrtrum! Wenn hier einer mit 100 um die Ecke kommt, ist es passiert!“ Sofie schloss das Fenster wieder, ohne jeden Kommentar. Erstens kommt hier keiner mit 100 um die Ecke, zweitens hat er lange, lange Zeit, um uns zu sehen und drittens … hinter uns flackerte Blaulicht. Ein Streifenwagen stellte sich hinter uns. Die waren ja mal richtig schnell.

Der Wichtigtuer schnappte sich gleich die Beamten: „Gleich festnehmen! Das sind Geisterfahrer! Oder zumindest ein Versuch!“ – „Jaja, wir kümmern uns ja schon drum, steigen Sie bitte wieder ein und fahren Sie weiter.“ – „Brauchen Sie noch einen Zeugen? Ich habe es genau
gesehen!“ – „Nein, die Situation ist ja eindeutig, vielen Dank, fahren Sie bitte weiter. Jetzt.“

Eine Polizistin kam an mein Fenster. Ich sagte ihr: „Hallo, wir sind beide Rollstuhlfahrer, sonst wären wir schon ausgestiegen. Die Dame hier
hinten wollte in Filzschlappen auf die Autobahn.“ – „Ja, die ist abgängig seit heute nachmittag. Wir haben sie schon überall gesucht.“ – „Sie wollte ihren Mann von der Arbeit abholen.“, sagte ich. – „Ach herrje“, sagte die Beamtin. Machte die Tür auf und rief laut, für Schwerhörige: „Hallo, Frau …, was machen Sie denn für Sachen? Sie sind ja völlig durchgefroren bei der Kälte. Bleiben Sie mal noch einen kleinen Moment im Warmen sitzen, wir kümmern uns gleich um Sie.“ Sie wandte sich zu ihrem Kollegen: „Bestellst du mal einen RTW? Die ist völlig unterkühlt.“

Während wir warteten, fragte mich die Polizistin: „Darf ich mal Ihren
Ausweis sehen? Und wie sind Sie denn überhaupt auf die alte Dame aufmerksam geworden?“ – Ich antwortete: „Wir standen da drüben an der Ampel, haben nur die Filzlatschen im Schnee gesehen und wie die hier im Dunkeln auf die Autobahn wollte. Da sind wir gleich hinterher und haben Sie aufgehalten. Die wäre hier mitten auf die Straße gerannt.“ – „Ja, das haben Sie sehr gut gemacht. Der Kollege hat gerade einen Krankenwagen bestellt, es ist wohl besser, wenn die einmal einem Arzt vorgestellt wird, die ist völlig unterkühlt.“

Nun fing die alte Dame zu erzählen an, dass sie mit ihrem Mann heute abend tanzen gehen wollte. Hoffentlich werde ich nie so verwirrt, und wenn doch, dann bekomme ich das hoffentlich nicht mehr mit. Sofie antwortete: „Tanzen gehen? Wo gehen Sie denn da immer hin? Haben Sie da ein schönes Lokal oder gehen Sie in die Disko?“ – „Nein, für die Disko sind wir zu alt. Wir gehen immer schön zu … aus, die haben einen großen Saal, wo man so richtig nah an der Kapelle sitzen kann. Kennen Sie das?“
– Sofie antwortete: „Leider nicht. Ich bin noch in dem Alter, wo man in
die Disko geht. Da blitzt und blinkt das so schön.“

Das war das Stichwort. Der Rettungswagen kam um die Ecke. Eine junge Frau und ein junger Mann stützten die alte Dame, die zu Fuß in das hell erleuchtete Fahrzeug wechselte. Sie fragte nicht mehr, wohin man sie bringt, ob sie tanzen gehen, ob sie ihren Mann abholen. Sie ging einfach
nur mit. Die ganzen Fahrzeuge fuhren ab, ich lenkte mein Auto im Rückwärtsgang wieder aus der Abfahrt und bog nebenan auf der richtigen Seite auf die Auffahrt zur A7 ein. Sofie seufzte: „Schon bitter sowas.“

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