Ausgangsschein für eine Party

Telefonklingeln. Für mich. Eine mir unbekannte Nummer. Anhand der ersten vier Stellen konnte ich erkennen, dass es sich um das Krankenhaus handelte, in dem ich nach meinem Unfall behandelt worden bin. Ronja? Nein, die Nummer war eine andere. Und außerdem hatte ich in diesem Jahr keinen Termin mehr bei ihr. Meine Psychologin war auch im Weihnachtsurlaub, … früher, als es noch kein ISDN gab (zu Hause hatten wir diese Clip-Funktion erst sehr spät), kannte man dieses Rätselraten nicht. Dafür war die Überraschung manchmal umso größer.

Ich meldete mich. Auf der anderen Seite meldete sich der Chefarzt. Er scheint an mir einen Narren gefressen zu haben, wenn es darum geht, sich mal auf Augenhöhe mit Leuten wie Catharina  u unterhalten. „Trauen Sie sich das zu?“ fragte er, nachdem er mir erzählte, dass die 15-jährige Laura aus Bayern vor einigen Monaten schwer verletzt bei ihnen eingeflogen worden war und inzwischen realisieren musste, dass bei dem Verkehrsunfall beide Eltern und eine Tante getötet worden sind. Sie selbst hat einen kompletten Querschnitt (Th 7) davongetragen. Man sei auf einem Heimweg von einem Badeausflug gewesen, im Dunkeln auf regennasser Straße einem Tier ausgewichen, ins Schleudern gekommen und am Baum gelandet. Laura zeige sich sehr gefasst und habe derzeit so viel mit sich selbst zu tun, dass sie gar keine Zeit habe, das alles vernünftig zu verarbeiten. Die Krankenkasse dränge bereits auf die Entlassung, obwohl weder ein angepasster Rollstuhl zur Verfügung stünde, geschweige denn schon die Ausbildung im Gebrauch desselben stattgefunden hätte. Die Wohnsituation sei völlig ungeklärt, sie solle in eine betreute WG, vermutlich hier in Hamburg. Der Chefarzt habe ihr angeboten, Kontakt zu einigen ehemaligen Patientinnen in ihrem Alter herzustellen. Sie habe eifrig genickt.

Sorry, aber da kann ich nicht anders. Da kann ich nicht sagen: „Nach mir die Sintflut. Sind nicht meine Probleme. Habe genug eigene, sollen sich andere um das Mädel kümmern, die dafür bezahlt werden.“ Ich kann es einfach nicht. Auch wenn ich es in dem Moment gerne täte. Nicht, weil ich Angst habe oder mich überfordert fühle. Aber weil es mir wichtig ist, seelisch halbwegs ausgeglichen zu sein. Da ist noch genug, was mich schnell runterziehen kann. Da brauche ich nicht noch zusätzlich was. „Trauen Sie es sich zu?“ – „Ja. Ich komme vorbei. Heute nachmittag.“ – „Sie haben was gut bei mir.“

Ich erwartete ein Häufchen Elend. Ein kleines Drama. Jemanden, der offen mit seinen Suizidabsichten pokert. Oder mich fragt, warum es ihn treffen musste. Oder nach dem Sinn und Unsinn anderer Geschenke, die das Leben so für einen bereit hält. Das Gegenteil war der Fall: „Hey, coolen Rolli hast du! Den gleichen habe ich mir auch ausgesucht. Auch in schwarz. Fährt der sich gut?“, fragte sie mich, noch bevor ich sagen konnte, wie ich heiße. Ich rechnete damit, dass ihre Stimmung bei irgendeinem „falschen“ Wort schlagartig umfallen würde – und falsche Wörter kann man immer suchen. Nö. Nix. „Du hast sicher schon gehört, wieso ich hier bin, oder?“ fragte sie mich. – „Nur ein paar Fetzen. Was ist passiert?“ – Sie erzählte die Story mit dem Unfall. Woran sie sich erinnern konnte, woran nicht. Dass sie froh sei, noch zu leben. Dass ihr die Eltern fehlten. Sie vergoss ein paar Tränen. Aber sie war erstaunlich gefasst.

„Am meisten fehlt mir, dass mich abends keiner mehr streichelt. Früher hab ich mich vor dem Fernseher auf das Sofa gelegt, den Kopf bei meiner Mama auf den Schoß, und dann hat sie mich gestreichelt. Das fehlt mir am meisten. Klingt vielleicht albern, ich bin fast 16, aber ich steh dazu.“ – „Das klingt überhaupt nicht albern“, bekräftigte ich. Wer lässt sich nicht gerne kraulen?

Nach rund einer Stunde fragte sie, ob wir zusammen Backgammon spielen wollen. Warum nicht? Sie saß die ganze Zeit auf ihrem Bett, nun stauchte sie ihr Kopfkissen hinter sich zusammen, rutschte nach oben, legte mit ihren Händen ihre Beine in einen Schneidersitz, baute vor sich das Spiel auf und bot mir das Fußende an. Ich zog meine Schuhe aus und setzte mich vom Rolli auf ihr Bett, ebenfalls in den Schneidersitz. Das Spiel konnte beginnen. Nach fünf Minuten kam die Schwester rein. Brachte die Medikamente für den nächsten Tag. „Geht es Euch gut?“ fragte sie. Laura antwortete kiebig: „Mir ja. Ich bin am Gewinnen. Noch besser würde
es uns allerdings gehen, wenn zwischen uns ein Teller mit ganz vielen leckeren Keksen stehen würde und wir zwischendrin immer mal an einem knabbern könnten.“

Lauras Bauch sah keineswegs so aus, als hätte sie ständig solche Wünsche. Eher im Gegenteil. Ich grinste in mich hinein. Die Schwester sagte nichts, ging wieder raus und ließ die Tür hinter sich zufallen. Fünf Minuten später kam sie tatsächlich mit einem Teller wieder hinein, auf dem mehrere Kekse einer Mini-Prinzen-Rolle lagen. „Als Belohnung, weil du sonst so selbständig bist“, sagte sie. Und wollte damit vermutlich ausdrücken: „Ausnahmsweise bringe ich sie dir und sage nicht: Hole sie dir selbst, du bist ja schließlich nicht behindert.“ Was sonst zweifelsfrei gesagt worden wäre, ich spreche aus Erfahrung…

„Was machst du Silvester?“ fragte ich sie. Natürlich hatte ich vorher abgeklärt, ob es klug ist, diese Frage so zu stellen. Ihre Antwort: „Na was soll ich hier schon machen, bißchen fernsehen, hoffen, dass paar nette Leute da sind zum Karten spielen, irgendwo ne leckere Pizza bestellen und das wars. Was machst du? Party?“

„Bei mir in der WG, ja. Wir sind schonmal zu fünft, dann kommen noch zwei Freundinnen und eventuell auch noch ein Pärchen, die wussten noch nicht so genau, spontan kommen vielleicht auch noch zwei bis elf Leute dazu, dann wollen wir auch bißchen spielen, Raclette essen, quatschen und zu um 12 in die Stadt – wenn es nicht gerade heftig schneit. Danach schlafen die meisten bei uns auf Luftmatratzen und Isomatten und morgens wird dann ausgeschlafen und dann gibt es gemeinsames Neujahrsfrühstück.“

Ich wartete ihre erste Reaktion ab. Wenn die gewesen wäre: „Nee, da bin ich aber froh, hier in meinem beschützten Dunstkreis zu sein“, wäre ich nicht weiter drauf eingegangen. Aber sie sagte stattdessen: „Darauf hätte ich auch total Bock. Letztes Jahr habe ich mit ein paar Leuten aus meiner Klasse zusammen gefeiert, bis auf die Idioten, die da mit Böllern experimentiert haben, war das super.“

Ich fragte sie: „Willst du dazu kommen?“ – „Zu dir? Zu euch?“ – „Ja? Die meisten sind Rollifahrer, das würde sicher lustig sein.“ – „Richtig Lust hätte ich, aber ich komm hier ja nicht weg, höchstens bis 21 Uhr, und das ist dann eher nix.“ – „Hol dir doch einen Ausgangsschein. Über Nacht.“ – „Um Party zu machen… wenn du meinst, dass den jemand unterschreibt, bin ich dabei“, sagte sie mit durchweg ironischem Unterton.

Ich nahm das ernst und antwortete: „Okay. Ich hol dich um 18 Uhr ab. Mit dem Auto, damit du nicht durch den Schnee musst. Dann kommst du nämlich nie an, das schaffen zur Zeit nicht mal die alten Hasen, die seit 20 Jahren in den Dingern fahren. Du kriegst von mir ne fette einsvierzig mal zwei Meter selbstaufblasende Luftmatratze als Gästebett, darauf holst du dir auch keine Druckstellen, eine Zudecke, ein Kopfkissen; musst du nur genug Klamotten mitbringen, Katheter, Medikamente, was du so brauchst, und dann bring ich dich am Ersten nachmittags wieder her.“

Sie tippte sich an die Stirn. „Träum weiter.“ – Ich tippte mit meinem Finger auch an ihre Stirn. „Ich träume nicht, ich mein das durchaus ernst! Du kannst dir deinen Ausgangsschein beim Chefarzt abholen.“ – „Ich setze 10 Euro, dass der den nicht unterschreibt und mich auslacht.“ – „Ich setze eine tolle Silvesterparty dagegen, dass der da unten schon unterschrieben liegt.“

„Was habt ihr denn hier eingefädelt?“ fragte sie mich ein wenig entsetzt. „Wieso lädst du mich auf deine private Silvesterparty ein?“ – Ich antwortete: „Vorbeigekommen bin ich, weil mich der Chefarzt gebeten hat. Du würdest Anschluss suchen. Eingeladen habe ich dich, weil du mir sympathisch bist und ich glaube, dass du gut in unsere Runde passen würdest.“ – Sie strahlte: „Heute ist mein Glückstag!“ Wollte in ihren Rolli, dabei fiel die Hälfte des Spiels runter, was sie nicht kümmerte. Ich fragte sie: „Wo willst du hin?“ – „Na, zum Chefarzt, den Schein abholen!“

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