Der Bericht über die neun Tage im Krankenhaus hat noch mindestens ein zweites Kapitel: Marion. Marion ist 14 und lag wegen irgendeiner Oberarmverletzung im Krankenhaus. Sie sagte mir, jemand habe sie im Streit mit dem Messer verletzt gehabt – aus dem, was die Ärzte während der Visite so von sich gaben, ergab sich, dass sie gestürzt war, ein Knochen dabei gebrochen war.
Sie hatte auch schonmal Tritte in den Unterleib bekommen, wäre dabei fast verblutet und könne deswegen keine Kinder mehr bekommen. Ihr Vater sei ein berühmter Geschäftsmann und sehr reich, ihre Mutter sei auf einer Beautyfarm in Australien und man könne sie da nicht erreichen, deswegen bekäme sie keinen Besuch. „Was ist mit Mitschülerinnen? Hast du
keine Freunde?“
Doch, sie habe über 500 Freunde bei Facebook (hatte aber was dagegen,
dass ich sie als Freundin hinzufüge) und die Mitschüler dürften leider nicht kommen, weil in ihrer Klasse gerade etwas ansteckendes rumgehe und
damit solle keiner ins Krankenhaus. Sie bekam aber auch keine Anrufe und nur ganz selten mal eine SMS – auf ein Schrotthandy, das vor 5 Jahren mal 20 Euro gekostet hat. Ihr iPhone hat die Mutter mitgenommen nach Australien, nachdem sie ihr eigenes einem bedürftigen Kind geschenkt habe. Ihre große Schwester käme sie besuchen, hin und wieder. Die kam auch: Es war eine Sozialarbeiterin vom Jugendamt.
Und sie habe schweres Asthma und Diabetes. Der ließe sich nur ganz, ganz schwer behandeln und deswegen habe sie so eine Insulinpumpe implantiert bekommen. Und sie habe so eine Muskelkrankheit, wegen der sie manchmal auch im Rollstuhl sitzen müsste. Aber nur so tageweise oder
Wochen, höchstens mal ein paar Monate. Sie habe genauso einen tollen Rolli wie ich…
Ich wusste, dass fast nichts von alledem stimmte. Ganz am Anfang habe
ich einen Moment gezögert, aber mir wurde ziemlich schnell klar, dass sie in einer Welt lebt, in der sie vermutlich elementare Dinge wie Liebe, Zuwendung, Geborgenheit vermisst. Die Eltern leben von Hartz IV, mindestens einer Alkoholiker, Marion ist schlecht in der Schule, vielleicht schon auf kriminellen Abwegen – und vielleicht hat ihr wirklich mal jemand in den Bauch getreten und vielleicht ist auch an irgendeinem der anderen Themen ein Funken Wahrheit dran.
Ich hätte es so gerne gesehen, dass sie einfach die Wahrheit sagt und
mit mir über das redet, was sie wirklich bewegt. Aber ich fürchte, das können Menschen nicht, die krankhaft lügen. Ich fürchte auch, dass sie aus einem Austausch über ihr wahres Leben überhaupt keinen Nutzen ziehen
würde. Ich hatte das Gefühl, dass sie dringend Trost und Zuwendung brauchte, gleichzeitig aber davon ausging, dass ihr das für ihre wahren Probleme nicht zustand. Wertlos schien sie sich zu fühlen, so, wie sie wirklich war.
Sie tat mir so Leid. Ich habe mit ihr geredet, habe sie ernst genommen, habe ihr das Gefühl gegeben, ich glaube ihr den ganzen Blödsinn, und habe sie einfach immer nur erzählen lassen. Vermutlich fördert man damit noch diese Erkrankung. Als ich entlassen wurde, haben wir Handynummern ausgetauscht und ausgemacht, dass ich sie einlade, wenn
ich, sobald es etwas wärmer ist, wieder mit meinen Leuten eine Grillparty am See mache. Und wenn ihr mal ganz und gar die Decke auf den
Kopf fallen würde, dürfe sie auch mal eine Nacht bei mir schlafen. Woraufhin sie wörtlich sagte: „Pass auf, dass du nicht meine beste Freundin wirst.“
Sie war nicht anstrengend. Man konnte sich normal mit ihr unterhalten. Sie war nicht nervig. Im Gegenteil, sie konnte toll und fesselnd erzählen. Witzig. Intelligent. Aber eben nicht aus ihrem Leben,
sondern aus ihren Träumen. Insgeheim habe ich sie „Lügenbaronesse“ getauft. Vermutlich wäre es besser gewesen, ihr keinen näheren Kontakt anzubieten.